Die Schwester der Nonne
durch die Wolken fiel. Für eine kurze Zeit teilte sich der Himmel, und die Sonne sandte ihre Strahlen auf die Erde. Es war keine Erscheinung. Es war … das Wetter.«
»So, so«, murmelte Benedictus. »Verschiedene Zeugen behaupten aber etwas anderes.»
Er wechselte mit der Äbtissin einen kurzen Blick.
»Bringt Schwester Gundula herein. Sie soll als Zeugin aussagen.«
Beunruhigt drehte sich Maria zur Tür, durch die Gundula hereingeführt wurde. Sie kniete vor dem Propst nieder. Die Äbtissin hielt ihr die Bibel vors Gesicht, worauf Gundula die Bibel küsste.
»Schwöre beim Wort Gottes, die reine Wahrheit zu sagen.«
»Ich schwöre bei Gott, die Wahrheit zu sagen«, wiederholte Gundula.
»Nun sprich, Gundula, was geschah auf der Wallfahrt am heiligen Born?«
Gundulas Gesicht erhellte sich und ihr verklärter Blick traf Maria. »Unsere Schwester Maria hat ein Wunder vollbracht. Kraft ihrer Gebete floss wieder Wasser aus der Quelle. Die Gottesmutter selbst hat ihr die Kraft dazu gegeben. Ich habe sie gesehen, wie sie vom Himmel herabstieg, in einem Feuerstrahl so blendend hell.«
»Dir ist die Gottesmutter erschienen?«, staunte der Propst.
Gundula lächelte verzückt.
»Ja. Sie war schön, die Gottesmutter, und so voller Güte. Erst dachte ich, sie wende sich mir zu, aber das tat sie nicht.«
»Nicht?«
»Nein, sie wandte sich zu Maria, die neben mir kniete und im Gebet versunken war. Sie streckte die Hand aus und berührte damit Marias Kopf. Ich fühlte ein gewaltiges Glück in mir. Obwohl die heilige Jungfrau nicht mich berührte, fiel ich doch in Ohnmacht. Als ich erwachte, floss das Wasser aus dem Born und benetzte mein Gesicht. Augenblicklich wurde ich gesund und sprang auf. Ich habe es gesehen, dieses Wunder, und viele andere auch. Dann habe ich Marias Saum geküsst vor Freude und Dankbarkeit.«
»Und dir ist nicht der Gedanke gekommen, dass es sich um einen bösartigen Zauber handeln könnte? Um eine Hexerei vielleicht?«
Erschrecken trat in Gundulas mädchenhafte Züge.
»Oh nein, dazu war die Erscheinung viel zu klar, als dass ich an ihrer Wahrhaftigkeit gezweifelt hätte. Sie war erst so klein wie eine Puppe.«
»Wer?«
»Die heilige Jungfrau. So kam sie vom Himmel herab und wurde dann immer größer, bis sie so groß wie ein Mensch war. Ich konnte alles ganz genau erkennen.«
»Und dann floss das Wasser plötzlich aus dem Born?«
»Ja, genauso war es. Mich traf es wie ein Blitz, und ich fiel zu Boden. Als ich erwachte, kam das Wasser aus dem Born und benetzte mein Gesicht. Das Wasser ist wundertätig und heilt Kranke. Die Gnade der heiligen Jungfrau kam über uns, ehrwürdiger Vater.«
Am liebsten hätte Maria gerufen, Gundula solle schweigen. Niemals hatte Maria ein Wunder vollbringen wollen, und sie war sich sicher, dass sie auch keines vollbracht hatte. Damit stand sie aber allein auf der Welt. Alle anderen behaupteten das Gegenteil. Sie sah es an den Mienen des Propstes und der Äbtissin, dass sie sich durch Gundulas Aussage bestätigt fühlten.
»Danke, Schwester, Ihr könnt gehen«, entließ sie der Propst.
»Wie glaubwürdig ist diese Schwester?«, wollte er von der Äbtissin wissen.
»Schwester Gundula wurde schon als kleines Kind in die Obhut unseres Klosters gegeben. Sie wuchs im rechten Glauben und in der Erziehung unserer Schwesternschaft auf. Obwohl noch jung an Jahren, gaben wir sie unserer Novizin Maria zur Aufsicht und Leitung, was ein großer Vertrauensbeweis unsererseits ist. Sie ist über jeden Verdacht erhaben, rein im Glauben und rechtschaffen im Denken. Ihrer Aussage können wir Glauben schenken.«
»Nun ja«, erwiderte Benedictus etwas skeptisch. »Keinem Weib sollte man uneingeschränkt Glauben schenken. Auch unter einer Nonnenkutte kann der Teufel hocken.«
»Es steht Euch selbstverständlich frei, weitere Zeugen zu vernehmen«, sagte die Äbtissin mit säuerlichem Gesicht.
Benedictus winkte ab.
»Nicht nötig. Wenn ich beide Aussagen vergleiche, so ergibt sich, dass den Worten von Schwester Gundula Glauben zu schenken ist, weil sie unzweifelhaft durch ihre strenge klösterliche Erziehung unser Vertrauen genießt.«
Der Schreiber notierte eifrig mit, und in den kurzen Pausen, in denen Benedictus nach Luft rang, vernahm Maria das Kratzen seiner Feder auf dem Pergament.
»Euch, Maria«, fuhr Benedictus fort, »kenne ich seit Eurer Geburt und weiß, in welch sehr weltlichen Verhältnissen Ihr aufgewachsen seid. Zeit Eures Lebens standet Ihr im
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