Die Schwester der Nonne
Schwester Gundula.«
Der Propst und die Äbtissin gingen voran zum Kloster, während Maria, Gundula und die übrigen Nonnen ihnen im respektvollen Abstand folgten. Der Rest der Prozession zerstreute sich. Die Pilger eilten durch das Peterstor in die Stadt, um von dem Wunder am Marienborn zu erzählen.
Zum ersten Mal betrat Maria das Reich der Äbtissin. Sie staunte, wie prachtvoll alles eingerichtet war. Nichts erinnerte an das Armutsgelübde. Die Möbel bestanden aus edlen Hölzern, das erkannte Maria sofort mit kundigem Blick. Auf dem Tisch stand ein silberner Leuchter, das Kruzifix an der Wand war kunstvoll gearbeitet. Maria wusste zwar, dass alles nicht der Äbtissin persönlich, sondern dem Kloster gehörte. Das Kloster war reich. Eigentlich hätten sich die Nonnen freuen können, denn damit war ihr Lebensunterhalt gesichert.
Maria blickte beklommen zu Propst Benedictus, der in einem Lehnstuhl saß und ihr aus seinen kleinen Augen entgegenblinzelte. Er war mit den Jahren beleibt geworden, und die prachtvolle Soutane spannte sich über seinem Bauch. Mehr und mehr neigten die Augustiner-Chorherren dazu, das spartanische Gewand der Mönche gegen das weitaus prächtigere der geistlichen Gelehrten zu tauschen und sich damit von den Dominikanern des Paulinerklosters und erst recht den Barfüßern abzuheben. Die Augustiner waren es auch, die das Kirchenrecht vertraten.
Zur Rechten des Propstes stand ein Schreiber am Pult, ein Mönch aus dem Kloster St. Thomas. Mit ausdruckslosem Gesicht wartete er darauf, dass er etwas zu tun bekäme.
Benedictus streckte die Hand aus, an der ein großer Ring funkelte.
»Uns ist zu Ohren gekommen, dass beim heiligen Born ein Wunder geschehen sei. Und es ist uns zu Ohren gekommen, dass dieses Wunder durch dich, Maria, geschehen sei. Du lässt dich von dem Pöbel da draußen wie eine Heilige feiern, du nimmst das Lob und das Licht, das einzig Gott zusteht, für dich in Anspruch. Statt dich in Demut und Bescheidenheit zu üben, stiftest du die Leute zu einem Aufruhr an, und schmutzige Bauernhände tragen das Kreuz Jesu auf einer Prozession, die allein der Kirche vorbehalten sein sollte. Du solltest dich auf eine Wallfahrt begeben, um deine Seele zu reinigen, und durch die Mühsal des Weges Schmerz und Entbehrung empfinden. Du solltest am Born deine Bestimmung als eine der Marienmägde finden. Magd bedeutet Dienerin. Aber wahrscheinlich hast du in deinem Leben noch nicht gelernt zu dienen. Der Dienst an Gott ist die einzige Bestimmung einer Nonne. Wunder zu vollbringen bleibt anderen überlassen. Wo käme die Kirche hin, wenn jede Nonne für sich in Anspruch näme, direkt mit Gott oder der Gottesmutter zu sprechen? Mit welcher Berechtigung nimmst du für dich in Anspruch, einen direkten Weg zu Gott zu suchen? Das ist deinem Beichtvater vorbehalten. Dein Weg zu Gott führt über die Kirche. Dein Beichtvater ist der Vermittler zu Gott.«
»Und zur Gottesmutter«, ergänzte die Äbtissin.
»Und zur Gottesmutter«, wiederholte Benedictus. »Du hast auch das Schweigegelübde gebrochen. Diese Wallfahrt war nichts weiter als die Anmaßung eines hoffärtigen Weibes, das wieder einmal seine Sündhaftigkeit bewiesen hat. Eigentlich sind keine weiteren Beweise notwendig, und der Fall ist eindeutig. Trotzdem möchten wir dir die Gelegenheit geben, zu sprechen und Reue zu zeigen.«
Maria vernahm mit wachsendem Erstaunen die Worte des Propstes. Sie fiel auf die Knie.
»Ehrwürdiger Vater. Es lag mir fern, mir etwas anzumaßen, was über die gelobte Demut und Bescheidenheit hinausgeht. Ich versichere Euch, dass nichts geschehen ist, was dagegen verstoßen würde. Wir gingen unseren Weg in Schweigen und mit gesenktem Blick, im stillen Gebet und voller Gottesfürchtigkeit. Die Leute auf dem Weg zur kleinen Kreuzkapelle schlossen sich uns an. Niemand hätte sie hindern können. Warum sollte es Gott missfallen, wenn sie ihn auf diese Weise loben? Am heiligen Born stellten wir fest, dass die Quelle versiegt war. So knieten wir zum Gebet nieder. Ich betete zur Gottesmutter. Und plötzlich begann der Born zu sprudeln, erst langsam, dann immer stärker. Wir befreiten den Quell von Steinen und Erde und dankten der Gottesmutter dafür, dass sie den Born wieder sprudeln ließ. Sonst habe ich nichts getan.«
»Ist dir die Mutter Maria erschienen?«, wollte nun die Äbtissin wissen.
»Nein, ehrwürdige Mutter. Ich sah sie nicht. Ich sah gar nichts, nur dieses Licht.« – »Welches Licht?« – »Das
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