Die Schwester der Nonne
Alles andere überlasse uns. Bete dreimal den Rosenkranz und nimm das Schweigegelübde besonders ernst. Ich erteile dir Absolution.«
Maria war erleichtert, als sie sich aus dem Beichtstuhl erhob. Endlich würde der unglücklichen Schwester geholfen werden, und sollte wirklich Unrecht geschehen sein, dann würde auch das untersucht und geahndet werden. Sie hoffte nicht, dass es die Äbtissin betraf, denn das schien ihr nicht vorstellbar. Sie war ihre Mutter, und eine Mutter wollte für ihre Schützlinge doch nur Gutes.
Während sie im Nähzimmer saß und die gewaschene Bekleidung aus dem großen Weidenkorb ausbesserte, wanderten ihre Gedanken wieder zu Dorothea.
Zwar war sie nun nicht mehr beunruhigt, aber sie konnte die Gedanken auch nicht vertreiben. Was hatten die beiden Schwestern getan, um derart in Ungnade zu fallen? Wie konnten zwei weibliche Wesen miteinander eine fleischliche Sünde begehen? Ob sie Gundula fragen sollte?
Da sie aber an das Schweigegelübde gebunden war und auch die dafür notwendigen Zeichen nicht kannte, wurde nichts daraus.
In der Nacht konnte Maria nicht schlafen und lauschte durch die Dunkelheit, ob sie das Weinen wieder vernahm. Doch es blieb still, nur die gleichmäßigen Atemgeräusche der schlafenden Schwestern im Dormitorium und gelegentlich ein leises Schnarchen waren zu vernehmen. In dieser Nacht kontrollierte eine Nonne mehrmals das Dormitorium und achtete peinlichst genau darauf, dass alle Schwestern in ihren Betten lagen.
Am nächsten Tag wurde Maria in den Kapitelsaal gerufen. Ob man ihr erzählen würde, was mit Dorothea geschehen war? Und dass sich die andere Schwester namens Adelgunda in einem Kloster in Meißen befand. Alles war sicher nur ein Albtraum und ein Irrtum. Maria wünschte es so sehr.
Die Äbtissin stand steif und unnahbar vor ihr und blickte mit strenger Miene auf sie herab.
»Maria, dein Name ist gleichzeitig eine Verpflichtung. Es ist der Name unserer heiligen Jungfrau. Ihr zu Ehren wirst du am Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter hinauspilgern zum Marienborn. Bis dahin wirst du beten und schweigen. So soll sich deine Seele reinigen.«
Schweigen sollte sie, und sie hatte doch tausend Fragen. Sie wollte wissen, was es mit dieser Gefangenen im Keller und der verschwundenen Nonne auf sich hatte. Sie wollte lernen, lesen, schreiben. Sie wollte im Scriptorium arbeiten, weil sie doch der Schrift mächtig war, der Sprachen Latein und Griechisch. Sie hätte Übersetzungen vornehmen können, sich nützlich machen in dieser Ansammlung des Wissens in den langen Bücherregalen. Doch sie durfte nicht einmal darum bitten. Sie musste beten und schweigen. In Marias Seele schrie etwas auf. Sie wollte nicht lebendig begraben werden. Vor Entsetzen bleich stand sie im Gang zum Dormitorium. So fand Gundula sie. Die Schwester nahm ihre Hände. Sie fühlten sich eiskalt an.
»Um Gottes willen, Maria, bist du krank?«
Maria schüttelte stumm den Kopf. Wie sollte sie es Gundula begreiflich machen, dass sie zum Schweigen verpflichtet war?
Doch Gundula begriff sofort.
»Hat die Äbtissin dir das Schweigegelübde auferlegt?«
Maria nickte.
»Du musst zum Marienborn pilgern?«
Wieder nickte Maria.
»Allein?«
Sie senkte den Kopf, nickte schwach.
»Ich werde dich begleiten. Außerdem haben wir uns ein System von Zeichen ausgedacht, das wir benutzen, um uns untereinander und heimlich zu verständigen.« Sie kicherte mädchenhaft. »Mach dir keine Sorgen, Gott wird es dir danken.«
Maria schenkte ihr einen traurigen Blick. Wenn sie doch nur den Frohsinn von Gundula besäße. Für diese war das Kloster Heimstatt. Es bot ihr Geborgenheit, weil sie nichts anderes kannte.
»Komm mit, ich zeige es dir.«
Gundula zog Maria in einen kleinen Seitengang.
»Besonders wichtig sind die Zeichen im Refektorium. Möchtest du Käse haben, dann presst du so die Hände gegeneinander.« Gundula machte es vor und forderte Maria auf, es ihr nachzutun. »Wünschst du aber Fisch, dann ruderst du so mit den Händen, als wenn du schwimmst. Für Brot ist das Zeichen so.«
Sie formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis.
»Willst du Essig haben, fasst du dir einfach an die Gurgel.« Sie lachte. »Wir brauchen keine Sprache, um uns zu verstehen. Ähnliche Zeichen gibt es auch für alle anderen Dinge, für Kleidungsstücke, Bettwäsche, für das Schlafen, Waschen und noch so manches.«
Sie kicherte wieder.
»Das wirst du schon noch alles lernen.«
Maria
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