Die Schwester der Nonne
Lichtstrahl auf die Erde und umhüllte Marias gebeugte Gestalt. Sie nahm das leise Plätschern von Wasser wahr, ohne es deuten zu können. Sie fühlte es feucht unter ihren Knien, ohne dass sie es störte. Der Lichtstrahl hielt sie gefangen, ohne dass es ihr bewusst wurde. Dann hörte sie eine Stimme, die so nah und doch wie von außerhalb der Welt klang:
»Wasser! Wasser! Die Quelle fließt!«
Fast widerwillig tauchte Maria aus ihrer Versunkenheit auf. Sie öffnete die Augen und blickte sich verwirrt um. Das Licht war verschwunden, der Himmel wolkenverhangen, und die Pilger knieten immer noch im Halbkreis um sie herum. Neben ihr lag Gundula lang ausgestreckt auf der Erde. Ein dünnes Rinnsal sickerte aus der verschütteten Quellfassung zu ihnen herüber, unter Gundulas Gesicht hindurch bis zu Marias Knien und benetzte ihren Kittel. Etwas Wasser geriet in Gundulas geöffneten Mund. Sie verschluckte sich, hustete und prustete und kam auf diese Weise wieder zu sich. Sie richtete sich auf und blickte befremdet um sich.
»Mir … mir ist die Muttergottes erschienen«, stammelte sie. »Die heilige Jungfrau Maria. Aber sie … sie meinte nicht mich. Sie … sie hat sich an dich gewandt.«
Sie schaute zu Maria und bemerkte plötzlich das Wasserrinnsal.
»Das Zeichen! Sie hat die Quelle wieder belebt. Maria, du bist eine Auserwählte. Dich hat die Muttergottes erkoren, uns zu führen. Du wirst uns heilen, du wirst uns auf den rechten Weg führen.« Sie küsste ergriffen den schmutzigen Saum von Marias Tracht. Auch die anderen Pilger sprangen auf, warfen sich vor Maria zu Boden und küssten den Saum ihres Kittels und ihre Füße, ergriffen ihre Hände und begannen zu weinen und laut zu beten.
Erschrocken richtete Maria sich auf.
»Was tut ihr da? Hört auf damit! Wir haben alle dafür gebetet, dass dieses Wunder geschehe. Die Gottesmutter hat uns allen die Gnade erteilt.«
Aber niemand hörte auf sie. Einige begannen, die Quellfassung von Erde und Steinen zu befreien. Das Wasser sprudelte stärker und klarer, aus dem winzigen Rinnsal wurde ein kleiner Quell. In Windeseile verbreitete sich die Kunde in den umliegenden Dörfern. Und während die kleine Pilgergruppe noch am Born rastete, kamen die Leute herbeigelaufen, um das Wunder zu bestaunen und zu beten. Es war unfassbar, dass eine einfache Nonne allein mit ihren Gebeten dieses Wunder vollbracht haben sollte. Die einfachen Leute aus den Dörfern wurden nicht müde, Maria zu danken, und behandelten sie wie eine Heilige.
»Dankt nicht mir, sondern der Gottesmutter«, wehrte Maria bescheiden ab. »Ich bin nur ein Mensch. Die Gottesmutter kann Wunder vollbringen. Lasst uns gemeinsam zu ihr beten.«
War es nur die Einfalt der schlichten Bauern oder der inbrünstige Wunsch, dass auch ein Mensch mit reiner Seele ein Wunder vollbringen konnte, sie hörten nicht auf, die Nonne zu lobpreisen, wie es in der Kirche nur Gott vorbehalten war. Maria erschrak darüber.
»Komm, lass uns zurückkehren«, raunte sie Gundula zu. »Mir machen die vielen Leute Angst.«
Sie erhoben sich. Die Bauersfrau, die sie schon auf dem Herweg begleitete hatte, ließ es sich nicht nehmen, das Kreuz voranzutragen. Die Nonnen und Pilger und Bauern schlossen sich dem Zug an. So kam es, dass eine wesentlich größere Prozession nach Leipzig zurückkehrte, als die Stadtmauern verlassen hatte.
Die Kunde vom Wunder am Marienborn eilte ihnen voraus wie auf Vogelschwingen, und die Menschen liefen vor dem Peterstor zusammen, um die Prozession zu erwarten und einen Blick auf die wundertätige Nonne zu werfen. Aus dem Johannishospital kamen die Kranken und Siechen herbei und hofften, etwas von dem wundertätigen Wasser zu bekommen, das die Nonnen mitbrachten.
Auch die Nonnen des Marienklosters erwarteten sie, allen voran die Äbtissin und neben ihr Propst Benedictus. Die Nonnen hielten die Köpfe im stillen Gebet gesenkt, aber die eine oder andere konnte sich einen verstohlenen Blick auf Maria nicht verkneifen. Nur die Äbtissin und Benedictus hielten ihre Blicke auf Maria geheftet, und diese Blicke waren weder bewundernd noch glücklich.
Maria kniete vor ihnen nieder.
»Verehrte Mutter, getreu Euren Anweisungen und dem Willen Gottes und der Gottesmutter habe ich die Wallfahrt zum heiligen Born unternommen. Hier bin ich wieder und kehre zurück in Euren Schutz.«
Die Äbtissin neigte nur knapp den Kopf und wandte sich um.
»Folgt mir. Wir sind bereit, von Eurem Wunder zu vernehmen. Ihr auch,
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