Die Schwester der Nonne
packte sie wie mit eisigen Krallen. Sie wurde geschoben und gestoßen. Plötzlich taten sich Stufen vor ihr auf. Sie tastete sich vorwärts und wäre beinahe wieder gestürzt. Die Treppe schien in eine Gruft zu führen, es roch feucht und modrig. Dann war sie zu Ende, und jemand zog ihr das dunkle Tuch vom Kopf. Blinzelnd schaute sie sich um. Eine schreckliche Erkenntnis durchzuckte sie. Der Gang, die schwere Tür mit dem großen Riegel und dem kleinen Fenster kannte sie. Ein Arm streckte sich aus der Dunkelheit vor, öffnete die Tür und stieß sie in das Verlies. Hinter ihr fiel krachend die Tür zu, und der Riegel wurde vorgeschoben. Dann entfernten sich eilige Schritte.
Wie gelähmt blieb Maria stehen. Nur ihre weit aufgerissenen Augen bewegten sich und versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen.
»Ist da jemand?«, fragte sie mit bebender Stimme. Niemand antwortete ihr. »Dorothea, bist du hier?«
Stille. Maria hielt den Atem an, aber das Blut rauschte in ihren Ohren, und ihr Herzschlag trommelte wie ein Specht an den hohen Eichenbäumen. Sie nahm allen Mut zusammen und streckte die Hände aus. Dann ging sie vorwärts, einen Schritt, und noch einen. Ihre Finger berührten die feuchte Wand, und sie zuckte zusammen. Langsam tastete sie sich weiter. Sie berührte etwas Metallenes. Die Ketten! Sie hingen schlaff an zwei Ringen herab. Sie suchte weiter, an der Wand entlang. Eine Ecke, eine weitere Wand. Die Tür. Sie hämmerte mit den Fäusten dagegen.
»Hilfe! Hilfe!«
Ihr wurde klar, dass niemand ihre Schreie hören würde. Vorsichtig tastete sie sich weiter. Wieder eine Ecke, eine Wand, feuchter Stein. Mit dem Fuß stieß sie gegen einen tönernen Krug, der umfiel. Sie erreichte die Ketten und wusste, dass sie allein war. Langsam ließ sie sich auf den Boden sinken und begann still zu weinen.
Katharina lag auf dem Bett und starrte gegen den Baldachin. Seit Maria nicht mehr da war, war das Bett viel zu groß geworden. Von ihren Kindertagen an hatten sie es miteinander geteilt. Nun fühlte sie sich, als wenn ein Teil von ihr abgestorben wäre. Nacht für Nacht wanderten die Gedanken zu ihrer geliebten Schwester.
Immer wieder erinnerte sie sich an die unbeschwerten gemeinsamen Tage ihrer Jugendzeit, als sie hinunter in den Auwald und auf die Wiesen gingen, Blumen pflückten und Honig kauften, den Fischen und Schmetterlingen zusahen oder ihren Freund Thomas besuchten und seinen abenteuerlichen Erzählungen lauschten. Sie dachte an die lustigen Stunden mit Philomena, an ihre spielerischen Streiche auf dem Speicherboden, an die hübschen Geschenke des Vaters.
Sie erinnerte sich an die Winterzeit am Kamin, wenn sie zu Füßen der Amme saßen und diese ihnen, Mützchen strickend, schauerliche Geschichten von Geistern, Zwergen, Kobolden und Drachen erzählte. Da gab es Fische mit Hundeköpfen, Nixen und Wassergeister, Irrlichter und Moorfeuer. Wenn sie sich ängstigten, dann hielten sie sich umschlungen und teilten ihre Angst. Gleich ging es ihnen besser.
Sie erinnerte sich an die bewundernden Blicke der jungen Männer, wenn sie, in ihre hübschen Kleider gewandet, durch die Wiesen und Felder gingen, um den Frühling zu begrüßen. Sie waren eine doppelte Freude für jedes Auge, bei allen Menschen gern gesehen und beliebt obendrein. Alle Mägde und Knechte des Hauses liebten die Zwillinge, und Katharina erinnerte sich, dass ihnen die Bäckersfrau mit den Brezeln immer zwei Stück geschenkt hatte, wenn sie vorbeigingen.
Das alles war Vergangenheit. Wenn sie in ihrem weichen, mit feinem Linnen bezogenen Bett lag, stellte sie sich vor, wie Maria auf einer harten Pritsche schlief, im kalten Dormitorium des Klosters, ohne die tröstliche Wärme eines geliebten Menschen an ihrer Seite. Kälte und Strenge regierte nun ihr Leben, klösterliche Zucht und Ordnung, Freudlosigkeit und Leiden. Immer mit dem Blick auf den gekreuzigten Heiland blieb ihr die Welt der Sonne, der Blumen und des Lichts, der Freude und des Scherzes für immer verschlossen.
Es war nicht weit von ihrem Vaterhaus, keine tausend Schritte bis zum Peterstor hinaus und dem Flusse zu. Dort, wo die Nonnenmühle klapperte, und die trutzige Burg jeglichen Angreifer abschreckte, duckte sich an die Stadtmauer das Kloster. Fast hätte sie es vom Dach des Hauses sehen können, aber es war unerreichbar fern.
So manche Nacht presste Katharina das Gesicht ins Kissen und weinte sich den Kummer von der Seele. Ihr kam schmerzlich zu Bewusststein, dass ein Stück ihres
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