Die Schwester der Nonne
Gottes Erden wächst, hat seine Bestimmung und ist zu etwas gut. Hier, etwas abseits gelegen und voller Sonnenschein, liegt der Arzneigarten. Wir gewinnen viele Kräuter, die in der Apotheke zu Tees, Tinkturen, Tränken, Salben und Pillen verarbeitet werden. Dazu gehören auch verschiedene Blumen. Rosen, Lilien, Iris und Salbei zum Beispiel hegen wir als Heilpflanzen. Zudem sind sie Symbole des Christentums: Die heilige Jungfrau in ihrer Anmut und Milde erschien als Rose, die himmlische Reinheit wird als Lilie gesehen. Natürlich schmücken wir auch die Kirche zu hohen Festtagen. Dort drüben ist der hortas, der Gemüsegarten. Das gemeine Erdzeug wie Rüben, Erbsen und Bohnen wird von den Bauern geliefert, die dem Kloster abgabepflichtig sind, aber das feine Gemüse bauen wir selbst an. Und das hier ist unser Garten Eden, wo die Paradiesfrüchte wachsen.«
Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.
»Köstliche Äpfel, saftige Birnen, süße Pflaumen und herrliche Kirschen lassen uns glauben, wir befänden uns im Paradies.«
»Und wo ist die Schlange?«, wollte Maria wissen.
Rosalinde schaute sie irritiert an.
»Aber, Schwester Maria, bei uns gibt es keine Schlangen.«
Maria stieß mit dem Fuß an einen Stapel aus alten Holzscheiten. Eine dunkle Schlange züngelte darunter hervor und suchte ihr Heil in der Flucht. Sie schlängelte sich über den Weg und verschwand im Gras. An den beiden gelben Mondzeichen an ihrem Kopf erkannte Maria, dass es sich um eine Ringelnatter handelte.
Rosalinde wurde blass und bekreuzigte sich. »Ein schlechtes Zeichen«, flüsterte sie. Doch dann fing sie sich schnell und begann wieder zu schwärmen. »Wir hegen sogar seltene Pflanzen aus dem Süden, den duftenden Lavendel beispielsweise, aber auch die prachtvolle Pfingstrose, von der wir Kinneperlen gewinnen, die wir auf Ketten fädeln. Auch die Christrose fühlt sich bei uns heimisch, ebenso der blaue Eisenhut und der rote Fingerhut. Und dort siehst du das Diptamnum, das so wohltuend für den Magen ist.«
Maria ließ ihre Augen über die herrliche und großzügige Gartenanlage schweifen und traute immer noch ihren Augen nicht. Unter den Obstbäumen spross das Gras, durchsetzt mit den lieblichen weißen Blüten des Mailiebchens.
Das Ende des Obstgartens grenzte an den Pleißefluss. Schritt für Schritt wanderte Maria durch den Garten bis zum Fluss. Dann sank sie auf die Knie. In einem Gebet dankte sie der Mutter Maria für die Gnade, die ihr zuteil wurde. Sie dankte ihr dafür, dass ihre Augen wieder die Welt draußen sahen, ihre Nase sie riechen, ihre Ohren sie hören und ihre Haut sie fühlen durfte.
Mit sichtlichem Befremden beobachtete Rosalinde Maria.
»Ich weiß zwar nicht, welchen Vergehens du dich schuldig gemacht hast, aber es ist eine Strafe, bei den Konversen arbeiten zu müssen.« Sie schüttelte bedauernd den Kopf.
»Meines Wissens bist du doch eine von den Vornehmen, die dem Kloster eine ordentliche Mitgift gebracht haben.«
Maria senkte den Kopf. Sie wollte nicht darüber sprechen. Sie verstand selbst nicht, warum sie sich den Zorn der Mutter Oberin zugezogen hatte. Aber nun begriff sie, warum es Gundula gelungen war, sie für die Gartenarbeit einteilen zu lassen. Es war eine Strafe.
Wegen der vielen körperlichen Tätigkeiten, die Maria im Garten verrichten musste, verringerten sich ihre religiösen Pflichten. Alle Gebete nach der Prim zum Sonnenaufgang wurden im Freien abgehalten und erst zur Vesper kehrte Maria wieder ins Kloster zurück.
Im Augenblick empfand sie die Arbeit, die als Strafe gedacht war, als große Befreiung. Sie atmete tief die Luft ein und genoss den Duft der erwachenden Natur. Sie vernahm das liebliche Plätschern des Flusses und den fröhlichen Gesang der Vögel in den Zweigen der Büsche und Bäume. Die Konversen, die im Garten arbeiteten, waren an kein Schweigegelübde gebunden, und so plauderten oder sangen sie nach Herzenslust bei der Arbeit.
Sie erklärten Maria, die keine Ahnung von Gartenarbeit hatte, wie die einzelnen Pflanzen zu behandeln waren, wie gepflanzt, gejätet, geerntet und das Erntegut behandelt wurde. Marias Hände wurden rau und rissig von der Arbeit, ihr Rücken schmerzte, und oftmals war sie abends so müde, dass sie bei der Komplet einschlief.
Im Unterschied zu den Konversen durfte sie im Schlafsaal nächtigen und an den nächtlichen Gebeten teilnehmen. Immer wieder streiften sie die mitleidigen, manchmal auch schadenfrohen Blicke der Nonnen, aber Maria bemerkte es
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