Die Schwester der Nonne
nicht!«
Tobias fuhr herum und flüchtete aus der Hütte, wobei er die nachdrängenden Chorherren über den Haufen warf. Einer glitt auf der Brücke aus und fiel in das eisige Wasser, ein anderer stieß sich den Schädel an den Holzbohlen, dass er ohnmächtig liegen blieb. Ein dritter bekam so schreckliche Angst, dass er, noch bevor ein Banngebet sprechen konnte, seine Soutane mit seinem Darminhalt besudelte.
Die Ziege sprang auf und rannte über den Haufen schwarzer Leiber hinweg, jedem einen kräftigen Abdruck ihrer gespaltenen Klauen hinterlassend.
Das Kloster der stummen Tränen
Als Gott das Himmelsgewölbe schuf, hat er wohlweislich dafür gesorgt, dass die Abfolge der Jahreszeiten unveränderlich blieb. Auf jeden dunklen Winter folgte ein neuer Frühling. Wenn dies nicht so gewesen wäre, hätte Maria wahrscheinlich ihren Lebensmut gänzlich verloren. Hinter ihr lag eine Zeit der Finsternis, die schlimmer war als der Tod.
Der Tod ist gnädig, barmherzig, öffnet den Weg zum Himmel. Doch das, was sie in den letzten Monaten erleben musste, war die Hölle auf Erden. Sie bekam die unmenschliche Kälte des Klosterlebens zu spüren. Immer wieder wünschte sie sich, dieses strenge, harte und dem Irdischen abgeneigte Leben mit einem Lächeln ertragen zu können wie Schwester Gundula. Für diese war alles selbstverständlich, da gab es keinen Zweifel, keine Leugnung, keine Verweigerung. Sie scheiterte nicht an der Kälte der Klostermauern wie Maria.
Die Äbtissin hatte dafür gesorgt, dass Marias Widerstand gebrochen wurde. Endlos lange Tage und Nächte im Verlies des Klosters, wobei die Tage ebenso dunkel waren wie die Nächte, immer wieder Verhöre, immer wieder das monotone Verlesen von Psalmen, immer wieder das Herbeten der Regeln.
Nach Marias Wallfahrt zum Mägdebrunnen war die Äbtissin überzeugt, Marias Stolz überwinden zu müssen. Dass es die Novizin an der erforderlichen Demut mangeln ließ, schob sie auf Marias Herkunft. Eine reiche Kaufmannstochter hatte ein anderes Leben geführt als ein Mädchen, das schon als Kind der Obhut des Klosters übergeben wurde. Auch wenn Marias Beigabe den Klosterschatz ein gutes Stück anreicherte, Dankbarkeit erfuhr sie dafür nicht. Im Gegenteil.
Die Äbtissin begriff nicht, warum die Menschen in Maria eine Heilige sahen, wo sie doch so unvollkommen war. Ihre Abneigung der Novizin gegenüber schlug in Zorn um, so dass sie alle Mittel ausschöpfte, um Maria gefügig zu machen.
Den Winter im Verlies hatte Maria überlebt, aber sie kränkelte. Immer wieder schüttelte sie ein quälender Husten, immer wieder warf heftiges Fieber sie auf die Bettstatt. Auch als sie längst das Verlies verlassen durfte, suchten die Krankheiten Maria heim. Mehr als einmal musste sie sich auf die Krankenstation begeben. Schwester Gundula bat darum, Maria selbst pflegen zu dürfen. Sie redete ihr zu, sich auszuruhen und die mit der Krankenstation verbundenen Annehmlichkeiten zu nutzen. Das waren vor allem mehr Ruhe, die Befreiung von körperlicher Arbeit, das bessere und gehaltvollere Essen.
»Bitte, tue es«, flehte Gundula sie an. Sie sorgte sich sehr um Maria. Nicht nur körperlich war sie angegriffen. Das wochenlange Schweigegelübde, das die Äbtissin ihr auferlegt hatte, hatte sie noch mehr in Traurigkeit versinken lassen. Sie benutzte nicht einmal die Zeichen, die Gundula ihr beigebracht hatte. Schließlich gab Maria nach und ließ sich von Gundula auf die Krankenstation bringen.
Lange quälte sich Maria mit dem Gedanken an die unglückliche Nonne, die sie einstmals in dem Verlies gesprochen hatte. Sie hatte sie nie wieder zu Gesicht bekommen und nichts von ihrem Verbleib erfahren. Eine schreckliche Ahnung durchfuhr sie, und sie fürchtete sich.
Diese Furcht war ein ständiger Begleiter, seit sie die Zeit im dunklen Verlies verbracht hatte.
Geschwächt an Körper und Seele und unter dem Schweigegelübde verstummt, hatte sie, als sie nach Wochen das Tageslicht wiedersah, daran keine Freude mehr. Sie fragte sich, ob das der Sinn ihres Lebens sein sollte. Wie sollte sie Gott dienen, wenn sie schwieg, eingesperrt wurde, krank war. Konnte sie Gott nicht durch ihre Arbeit dienen? Würde es Gott nicht erfreuen, wenn sie den Menschen auf Erden half?
Doch an wen konnte sie sich wenden? Wen konnte sie fragen?
Mit traurigen Augen schaute sie zu Gundula auf, die sich über die Kranke beugte und sorgsam die Decke glatt strich.
»Du musst erst wieder zu Kräften kommen«, murmelte Gundula
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