Die Schwester der Nonne
Fast jedem wird die Zunge unter der Folter locker. Es ist wohl besser, nichts zu wissen und ein reines Gewissen zu haben.«
Thomas starrte ihn verzweifelt an.
»Aber … Katharina, dann sehe ich dich niemals wieder?«
»Das liegt in Gottes Hand. Vergiss mich nicht, Thomas. Du bist ein treuer Freund.«
Sie küsste ihn auf beide Wangen. Dann bedankte sie sich bei Griseldis, die ihr dieses Asyl gewährt hatte.
»Gott sei mit dir, Griseldis. Hab Dank für deine Gastfreundschaft. Wir wollen dich nicht weiter in Gefahr bringen.«
»Die Liebe, die Liebe«, schnarrte die Alte, während sie ein Bündel packte und Haferbrot, Ziegenkäse und Wildhonig hineinpackte. »Da sehe einer noch durch. Ich dachte, du liebst den Thomas. Aber du liebst den Klaus. Und der Thomas liebt dich und ist eifersüchtig auf den Klaus, auch wenn er es nicht zeigen will. Und der Klaus liebt dich und flieht mit dir. Wahrlich ein schönes Durcheinander.«
Sie drückte Katharina das Bündel in die Hand.
»Die Geister des Waldes mögen dich beschützen. Und nun lasst mich allein, damit ich endlich schlafen kann.«
Die Ziege blickte ihnen mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck hinterher, als sie die Hütte verließen. Draußen umfing sie die eisige Kälte des erwachenden Morgens. Obwohl Thomas zum Umfallen müde war, wollte er das Paar noch ein Stück des Weges begleiten, um sie aus dem Wald herauszuführen. Sie schwiegen, während sie sich den kaum sichtbaren Pfad entlangtasteten, stolperten über Baumwurzeln, blieben an Gestrüpp hängen und außer leisen Flüchen und ihrem keuchenden Atem war nichts zu hören.
Sie erreichten die Via Regia, der sie weiter nach Westen folgen wollten. Thomas verabschiedete sich kurz und schroff.
»Alles Gute«, murmelte er mit belegter Stimme.
Klaus legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Wir stehen in deiner Schuld, Thomas. Gott wird dich für deine Großherzigkeit belohnen.«
Dann wandte sich das Paar um und verschwand im Morgengrauen. Thomas blieb allein auf der menschenleeren Straße zurück. Dicke Tränen rollten über seine blau gefrorenen Wangen. Er fühlte sich unsagbar elend und allein. Nur wenig später bewegte sich ein seltsamer Zug dunkel gekleideter Gestalten durch den winterlichen Wald. Allen voran huschte, gebeugt in hündischer Ergebenheit, Bruder Tobias. Ihm folgten eine Hand voll Augustiner-Chorherren und einige Stadtsoldaten. Benedictus hatte auf diesen anstrengenden Fußmarsch wohlweislich verzichtet. Er wollte das entlaufene Schäflein in seinen Räumen empfangen und schwelgte bereits in Vorfreude.
Es verhieß ihm nicht nur öffentliche Anerkennung, wenn er die entlaufene Braut heimbrachte. Auch die Belohnung, die Eckhardt für das Wiederauffinden seiner Braut ausgesetzt hatte, wollte er einstreichen.
Obwohl er Katharina gern für den Frevel, den Hieronymus begangen hatte, zur Verantwortung ziehen wollte, musste er abwägen, ob er sie im Kellerverlies darben lassen oder dem alten Eckhardt ins Bett legen wollte. Letzteres verursachte ihm Unbehagen, aber letztlich war ihm die versprochene Belohnung in harten Geldstücken wichtiger als Bruder Tobias’ brennendes Verlangen, einer vermeintlichen Hexe den Garaus zu machen.
Der Propst war sich gar nicht so sicher, ob Katharina wirklich eine Hexe war, auch wenn er es ihr ganz gern bewiesen hätte. Wahrscheinlich war sie nur ein liederliches Weibsstück und der fleischlichen Sünde verfallen. Wenn sie doch eine Hexe war, dann würde sie über kurz oder lang wieder auffällig werden, und dann konnte er immer noch mit der Wahrheitsfindung beginnen. Vielleicht war sie dann eine reiche Witwe …
Griseldis lag noch in tiefem Schlummer, als plötzlich die Tür zu ihrer Hütte aufgerissen wurde. Kalte Luft, Schneeflocken und welkes Laub wirbelten herein. Die Ziege meckerte aufgeregt und rollte mit ihren gelben Augen. Mit einem Schrei fuhr die Alte von ihrem Strohsack auf und starrte Tobias an.
»Der schwarze Bruno, der schwarze Bruno«, kreischte sie. Sie wirbelte aus dem Bett, packte vom Regal eine leere Flasche und stürzte auf ihn zu.
»Schlangengift und Krötenmilch,
Zauberwurz und Schierlingspilz,
Hexenring und Knotenstock,
Mäusedreck und Ziegenbock,
werd’ zu Schleim und dann zu Luft,
Alraunenzwerg mit Fäulnisduft,
schließ dich in die Flasche ein,
wirst auf ewig gefangen sein.«
»Hilfe! Hinweg, du alte Hexe!«
Tobias hob entsetzt die Hände. Griseldis sprang wie eine Furie an ihm hoch.
»Nein, nein, ich will
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