Die Schwester der Nonne
würde ihr den Mund verschließen – bis in den Tod!
Weit im Westen der Stadtmauern gelegen, inmitten der sumpfigen Aue, wo sich der rauschende Elsterfluss in zwei Arme teilt, überspannte eine Brücke den östlichen Elsterarm. Ringsum waberte Nebel über den Wiesen, und das Grau des erwachenden Morgens verbreitete ein fahles Licht. Nach Westen zu wich langsam die Nacht mit ihrem kühlen Hauch. Der Wald stand wie eine dunkle Wand.
Trotz der frühen Stunde hatte sich eine große Menschenmenge eingefunden, um der Hexenprobe beizuwohnen. Sogar der Bürgermeister und hohe Stadthonoratioren waren dabei. Ihnen lag es natürlich am Herzen, ihre Stadt sauber von Hexen zu halten und damit die Ordnung zu sichern.
Mit Schaudern und doch von einer grausamen Neugier getrieben, drängten sich die Menschen am Ufer des geteilten Flusses. Es wurden sogar Wetten darauf abgeschlossen, ob die Hexe unterging, was ihre Unschuld beweisen würde, oder ob sie obenauf schwamm. Einer wusste mit Bestimmtheit zu berichten, dass eine Hexe wie ein Fass auf dem Wasser schwamm, obwohl sie darum gebetet hatte unterzugehen und immer wieder ihre Unschuld beteuerte. Daran könne man sehen, wie verlogen Hexen seien und was für ein Übel für die Menschheit.
»Ich glaube nicht, dass Maria eine Hexe ist«, widersprach eine Frau. »Ich kenne sie von Kindheit an. Sie war stets fromm und mildtätig und hatte für jeden ein freundliches Wort. Sie kam ganz nach ihrer Mutter, die vor aller Welt auf dem Marktplatz einem armen Gaukler zu Hilfe eilte und ihn in Schutz nahm. Gott hab sie selig, aber so einen gutherzigen Menschen findet man selten.«
»Wer sagt denn, dass sie als Hexe geboren war? Warum ist sie denn aus dem Kloster geflüchtet? Weil der Teufel sie verführt hat und sie eine Buhlschaft mit ihm eingegangen ist. Wenn es erst einmal so weit ist, dann ist es zu spät. Sie hat gestanden, dass der Gehörnte ihr zur Flucht verholfen hat, und man sagt, sie sei hinaufgefahren zum Hexensabbat. Zumindest in diesem Sommer hat sie allerlei Unheil angerichtet und Wetter gezaubert. Bei Altenburg soll sie sogar einen Blitz in eine Kirche gelenkt haben, bis sie abbrannte. Schlimmer kann man Gott nicht leugnen.«
»Wir werden sehen, wer Recht behält«, entgegnete die Frau, und die Umstehenden murmelten beifällig. Keiner wollte sich das aufregende Spektakel entgehen lassen. Kinder krallten sich an die Röcke ihrer Mütter, andere Frauen hielten schlafende Kleinkinder auf ihren Armen, und Männer standen in kleinen Gruppen und diskutierten eifrig. Selbst eine Abordnung der juristischen Fakultät hatte sich eingefunden, unter ihnen Magister Siebenpfeiffer und Klaus. Es kostete Klaus fast übermenschliche Kräfte, sich auf den Beinen zu halten. Seine Knie schlotterten, und ein eiserner Ring schien seine Kehle zuzudrücken.
Das Gesicht des Magisters blieb ausdruckslos, nur seine Augen suchten unauffällig die Zuschauer ab, ob er nicht den Mann wiederfand, der in Marias Begleitung gekommen war. Endlich sah er ihn. Er trug noch immer die unauffällige Bauerntracht und schlenderte in aller Ruhe über die Brücke, die alsbald zur Richtstätte werden sollte. Mit den Augen suchte er Kontakt zu Siebenpfeiffer, und als er ihn erkannte, blinzelte er mit dem linken Auge. Dann winkte er mit einer leichten Kopfbewegung zum linksseitigen Ufer der Elster. Siebenpfeiffer hatte den Wink verstanden, schob Klaus unauffällig vor sich her, bis sie die andere Seite der Brücke erreichten.
»Ist dies der Studiosus Klaus?«, fragte Hans leise.
Siebenpfeiffer nickte.
»Psst«, zischte Hans, als Klaus den Mund zu einer Frage öffnete. »Komm mit, aber unauffällig.«
Fragend blickte Klaus den Magister an, doch der hatte sich schon wieder umgedreht und schlenderte zu den anderen Studenten zurück.
Nur wenige Schritte von der Brücke entfernt mündete ein kleiner Nebenarm in die Elster ein. Sein Ufer war von dichtem Gebüsch, Brennnesseln und steifen Gräsern gesäumt. Hans bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp. Am liebsten wäre Klaus davongelaufen. Was hatte das zu bedeuten? Während sich das neugierige Volk um die Brücke scharte, war es hier still und einsam. Nur der Wind bewegte die Nesseln mit ihren garstigen Blättern. Klaus kratzte sich verstohlen. Zu seiner Überraschung gewahrte er unten im Wasser einen Kahn, und darin stand – »Thomas!«
»Pssst«, warnte ihn Hans zum zweiten Mal. Er bedeutete Klaus, in das Boot zu steigen. Dann hockten sich alle drei
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