Die Schwester der Nonne
vorsichtig.
»Unsinn! Sie ist die flüchtige Nonne. Es gibt genug Zeugen aus dem Georgenkloster: die Äbtissin, andere Nonnen, die sie unzweifelhaft wiedererkannt haben. Lass es genug sein. Ich dulde nicht, dass du noch einmal zu ihr gehst.«
Tobias warf sich dem Propst vor die Füße.
»Morgen wird sie gerichtet, dann ist sie weg, tot, für mich verloren!«
»Was hast du nur? Sie darf dich nicht interessieren. Dass ich dir gestatte, Gefangene zu verhören, ist reine Gutmütigkeit. Ich weiß, was dir Freude macht, Bruder Tobias. Aber diese Freude auf Erden ist nichts im Vergleich zu den Freuden des Paradieses, die dich erwarten, wenn du auf Erden gottgefällig lebst. Du musst Enthaltsamkeit üben, Demut, Gehorsam. Wir übergeben Maria Gottes Gerechtigkeit. Das sollte dein Gewissen nicht belasten.«
»Aber … aber es ist doch Katharina. Sie … sie verwirrt meinen Geist. Sie … ist eine Hexe, weil sie mir ihre Reize zeigt und mich verführen will. Ich muss sie züchtigen. Ich muss sie bannen. Sie darf mich nicht begehren.«
»Mir scheint, dein Geist ist bereits verwirrt. Übe dich in Kontemplation, Bruder. Versinke im Gebet! Und banne alles Weibliche aus deinen Gedanken. Das Weib ist schlecht von Natur, da es schneller am Glauben zweifelt und dadurch zur Hexerei neigt.«
Tobias krallte sich im Gewand des Propstes fest.
»Vergebt Ihr mir, ehrwürdiger Vater?«
»Natürlich vergebe ich dir, Bruder Tobias. Du hast sie gefunden, das ist dein Verdienst, und sie der gerechten Strafe zugeführt. Alles andere ist nicht deine Aufgabe. Gottes Wohlwollen ist dir gewiss und meines auch.« Er warf ihm einen strengen Blick zu. »Mehr aber auch nicht!«
Tobias blickte dem Propst nach, wie dieser zur Kapelle ging, um für die verlorene Seele zu beten. Gott würde ihm diese Sünde sicher verzeihen. Der Propst würde ihm verzeihen. Hexe bleibt Hexe. Er war der Einzige, der wusste, dass Maria eigentlich Katharina war!
Die Nacht lag wie ein schwarzes Leichentuch über der Stadt und war noch nicht dem Morgen gewichen, als sich die Pforte des Klosters der Marienmägde öffnete. Ein langer, unheimlicher Zug verschleierter Nonnen erschien. Bußgesänge erklangen und laute Gebete wurden gemurmelt. Wie eine schwarze Raupe bewegte sich der Zug durch die taufeuchten Wiesen und die Nebel, die am Boden krochen.
Ein zweiter Zug schwarzgewandeter Mönche kam vom Thomaspförtchen her und vereinigte sich mit dem Zug der Nonnen. In ihrer Mitte ging Katharina, barfuß, in ein weißes Büßergewand gekleidet und mit gefesselten Händen. Die Folter hatte sie geschwächt und verunstaltet, und sie taumelte willenlos zwischen den bewaffneten Knechten, die sie führten.
Katharinas Gedanken eilten zu Maria, und sie hoffte, dass ihr Opfer die geliebte Schwester retten würde. Maria, die Stille, Duldsame, sollte endlich auch das Wunder und die Freuden der Liebe erfahren, so wie sie sie erfahren hatte.
Klaus! Er war noch jung und würde bald eine andere Geliebte finden. Er sollte sie nicht ganz vergessen, denn die Liebe zwischen ihnen war wunderbar, so rein, voller Lebenslust und Natürlichkeit gewesen. Es gab nichts, dessen man sich schämen und das man bereuen musste.
Vater! Wo war er? Was war geschehen? Er war immer so gut zu ihr gewesen. Auch dass er ihr einen alten Ehemann vermittelt hatte, nahm sie ihm nicht übel. Schließlich wollte er sie gut versorgt wissen, und Eckhardt war ein begüterter Mann. Vater hatte nur an ihr Wohlergehen gedacht.
Amme! Sie hatte sie geliebt, die kleine, kugelrunde Frau, deren Brüste sie gesäugt, deren Arme sie gewärmt und deren Strenge sie erzogen hatte.
Ja, sie dachte sogar an Philomena, die ihr die Welt des Tanzes, der Kunst und des Feinsinns nahe gebracht hatte, die ihr eine Freundin gewesen war und der schöne Mittelpunkt der Familie.
Thomas erschien vor ihrem geistigen Auge, der Freund aus Kindertagen, der sie nie im Stich gelassen hatte, der heimlich in sie verliebt war, das wusste sie, und der ihr doch geholfen hatte, als Klaus mit ihr flüchtete.
Klaus! Sie begann zu weinen. Ihr Opfer würde ihr leichter fallen, wenn Klaus nicht wäre. Ihr Herz war zerrissen zwischen ihrer Liebe zu Klaus und ihrer Liebe zu Maria. Sie konnte nicht sagen, welche schwerer wog. Die Entscheidung fiel ihr trotzdem leicht. Klaus würde leben und irgendwann eine neue Liebe finden. Doch Maria würde sterben, wenn Katharina sich nicht an ihrer statt opfern würde. Es gab ohnehin kein Zurück. Die Liebe zu ihrer Schwester
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