Die Schwester der Nonne
Hexen und Zauberer leugneten Gott, brachten die heilige Weltordnung durcheinander und richteten immensen Schaden an. Jedem guten Christen musste es ein Herzensbedürfnis sein, Derartiges bestraft zu sehen.
In dieser Nacht gab es im Thomaskloster keine Ruhe. Alle Mitbrüder mussten die Zeit bis zum Morgengrauen mit Fasten und Beten verbringen. Propst Benedictus saß in seinem Gemach und studierte den Malleus maleficarum, den Hexenhammer. Das war die berühmteste der Richtlinien zur Verfolgung von Hexen, und er suchte so viele Beweise wie möglich für die Schuld der Angeklagten.
Nicht allein die Flucht der Nonne aus dem Kloster, was einer unerhörter Untergrabung der Autorität Gottes gleichkam, sondern diverse andere Beweise sprachen für die schwere Schuld der Angeklagten.
Eine der Marienmägde hatte ausgesagt, sie hätte beobachtet, wie Maria des Nachts heimlich in die Klosterapotheke geschlichen sei, um dort aus verschiedenen Ingredenzien einen Zaubertrank zu mischen, den sie zu sich genommen habe. Bald darauf hätte sie einen Besen ergriffen und wäre damit zum Kamin hinausgefahren. Es war ein eindeutiger Beweis, den man nicht weiter untersuchen musste. Die Zeugin war eine der Marienmägde, die schon seit ihrer Kindheit im Kloster lebte und somit ernst zu nehmen war.
Auch die Äbtissin galt als Zeugin, die von dem angeblichen Wunder der sprudelnden Marienquelle berichtete, das nichts weiter als eine böse Hexerei war. Das Beschwören von Wassergeistern und Dämonen war für eine geübte Hexe eine Kleinigkeit. Der dumme Pöbel hielt sie für eine Heilige, und sie ließ sich tatsächlich von ihm anbeten. So viel Anmaßung musste bestraft werden.
Es hätte wohl einen Aufschrei der Empörung unterm Volk gegeben, würde er die Hexe weiter ihr Unwesen treiben lassen. Wer sollte die armen Menschen denn vor diesen Unholdinnen schützen, wenn nicht die Kirche?
Er ging die Fragen aus dem Malleus maleficarum noch einmal durch: Wie lange der Teufel schon zu ihr gekommen sei, was er begehrte und warum sie eingewilligt habe. In welcher Gestalt der Teufel gekommen sei, was er über sie gegossen und woher er es genommen habe. Wie oft sie die heilige Hostie wieder aus dem Mund genommen habe. Welche Spottnamen sie dem geliebten Herrn, der Jungfrau Maria und anderen Heiligen gegeben habe, wie oft sie ausgefahren sei und auf welche Art. Ob sie am Hexensabbat teilgenommen habe und wie viele Leute dort gewesen waren, ob sie nackt gewesen war dabei und was gegessen wurde. Ob sie die Leichen von Kindern ausgegraben und sie am Sabbat verzehrt habe. Ob sie böse Wetter gemacht und Hagel und Blitzschlag über das Land habe kommen lassen. Ob sie die teuflischen Zusammenkünfte genossen habe und ob der Teufel dabei still oder laut gewesen sei.
Unter der Folter konnte die Nonne das Vaterunser nicht aufsagen, sondern stammelte nur unverständliches Zeug. Wieder ein Beweis. Es waren wohl Zaubersprüche und Verwünschungen.
Nein, es gab nicht den geringsten Zweifel, dass Maria eine Hexe war und somit den Tod verdient hatte. Morgen in aller Frühe würde das Urteil vollstreckt werden. Das Schwemmen war ein Gottesurteil, das unzweifelhaft bewies, wer eine Hexe war.
Zufrieden klappte Benedictus das Buch zu und gähnte. Je mehr Leute anwesend waren, umso besser. Solche Urteile sollten abschrecken, sollten den zunehmend zweiflerischen Christen vor Augen führen, wohin es führte, der Geistlichkeit abtrünnig zu werden. Die Mächte der Finsternis lauerten überall, und es war die heilige Pflicht der Kirche und ihrer Diener, sie auszurotten.
Wohl oder übel musste auch der Propst den Rest der Nacht im Gebet in der Kirche verbringen. Lieber hätte er einen guten Tropfen Wein zu sich genommen und ein paar der Chorknaben bringen lassen, aber diesmal musste er seine Gelüste hintanstellen. Auf dem Gang traf er Tobias, der wie ein schwarzer Schatten an der Wand entlanghuschte.
»Bruder Tobias, wieso befindest du dich nicht in der Kapelle zum Gebet?«, wunderte sich Benedictus.
Tobias krümmte sich zusammen.
»Ich … ich wollte nach der Hexe schauen.«
»Das ist nicht deine Aufgabe«, wies der Propst ihn streng zurecht. »Du hattest deine Zeit gehabt, durftest sie befragen. Das muss genügen.«
Tobias winselte leise.
»Es hat nicht gereicht. Sie ist verstockt und halsstarrig. Außerdem gibt es da noch Unklarheiten.«
»Du sprichst in Rätseln. Sie ist überführt. Sie hat gestanden.«
»Und wenn sie nicht Maria ist?«, fragte Tobias
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