Die Schwester der Nonne
Haus lebte, so etwas wie sein Weib war. Bei Tag war sie Erzieherin der Zwillinge, was einen zähen Kampf mit der Amme zur Folge hatte, die sich nicht das Zepter aus der Hand nehmen lassen wollte.
Die Verhältnisse im Hause Preller störten Johannes Dümpel allerdings kaum, verbrachte er doch mindestens sechs Monate des Jahres draußen auf den Viehweiden und kümmerte sich wenig um das, was innerhalb der Stadtmauern geschah. Pünktlich zur Geburt seines nächsten Kindes war er ohnehin wieder zurück.
Thomas bat die beiden Mädchen in die Kuhburg. Vor dem Haupthaus stand eine hölzerne Bank, grob aus Rüsterholz geschlagen. Katharina und Maria nahmen Platz.
»Ich hole den Wein«, sagte Thomas und eilte ins Haus.
»Hast du gesehen, dass er ganz stachelige Waden hat?«, fragte Katharina ihre Schwester.
Maria hatte es sehr wohl gesehen. Thomas trug Hosen aus derbem Leinenstoff, die nur bis zur halben Wade reichten und ein schlichtes Hemd darüber, das er mit einem Lederriemen gegürtet hatte. Bis zum Winter lief er barfuß, was mit den feuchten und sumpfigen Wiesen an den Ufern der Flüsse zu tun hatte. Sie hätten allen Schuhen den Garaus gemacht.
Aber das schuhlose Dasein hatte einen entscheidenden Nachteil. In den Sümpfen wimmelte es von Schlangen, auch von einer giftigen Art. Eine davon hatte Thomas im vorigen Sommer in den Fuß gebissen. Beinahe wäre er an diesem Biss gestorben, wenn nicht der Apotheker in der Stadt, der seine Apotheke in der Nähe von Prellers Haus am Markt betrieb, ein Gegenmittel besessen hätte.
Hieronymus hatte es ganz selbstverständlich bezahlt. Eine Woche lang lag Thomas im Fieber, und die Zwillinge hatten täglich für ihn gebetet und Kerzen gestiftet. Das Wunder geschah, und Thomas genas. Später meinte er, die Gebete hätten geholfen, weil sie ja mit doppelter Kraft gesprochen worden wären. Wie dem auch sei, dieses Ereignis hatte die drei jungen Leute noch enger zusammengeschweißt.
»Vater hat auch stachelige Waden«, bemerkte Maria.
»Vater ist auch alt. Aber Thomas? Ob er sich zum Werwolf wandelt? Die Amme hat uns doch so eine Geschichte erzählt.«
Maria schüttelte den Kopf.
»Unsinn! Die Amme erzählt immer komische Geschichten. Thomas ist kein Werwolf.«
»Wieso wächst ihm dann ein Fell?«, wollte Katharina wissen.
»Allen Männern wächst das«, erklärte ihr Maria. »Thomas wird eben zum Mann.«
»Woher weißt du das?«
Maria schlug die Augen nieder und errötete.
»Ich habe es in einem Buch gelesen.«
»In einem Buch?«, staunte Katharina. »Was denn für ein Buch?«
»Vater besitzt es, aber gewöhnlich ist es weggeschlossen. Darin sind lauter Bilder von Menschen, wie sie aussehen, nackt und auch wenn … wenn sie tot sind.«
Katharina schluckte, doch dann wurde sie aufgeregt.
»Ich habe schon einmal einen nackten Mönch gesehen. Der ist in den Fluss gefallen, und als er wieder herausgekrabbelt war, hat er seine Kutte ausgezogen.« Sie presste die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Lachen. »Du musst mir das Buch unbedingt zeigen.«
Sie unterbrachen ihren Disput, weil Thomas mit einem Krug und drei Bechern aus dem Haus kam. Er schob mit dem Fuß einen hölzernen Hocker heran und stellte die Becher darauf ab. Dann schenkte er sie voll. Katharina lächelte ihm liebevoll zu.
»Ich bin froh, dass du nicht tot bist«, sagte sie.
Thomas blickte sie entgeistert an.
»Ich bin darüber auch froh«, sagte er schließlich. Er öffnete das Bündel und nahm den Kuchen heraus. »Schmeckt köstlich.«
Er kaute hastig und mit vollen Backen wie ein Hamster. Dann spülte er alles mit Wein herunter.
»Ich habe ihn gesehen«, platzte er plötzlich heraus.
»Wen?«, fragten die Zwillinge wie aus einem Mund.
»Den schwarzen Bruno.«
»Wo?«
»Im Wald zwischen den Nebeln. Ich bin mir ganz sicher.«
»Und du hast dich wirklich nicht geirrt?«
Thomas schüttelte den Kopf. Seine Augen hatten sich geweitet, und Maria sah in ihnen zum ersten Male Angst.
Nur flüsternd erzählten sich die Leute in der Stadt vom schwarzen Bruno. In den geisterhaften Nebeln der sumpfigen Aue war so manches möglich.
»Er sah ganz so aus, wie man es sich erzählt«, flüsterte Thomas. »Vertrocknet und dürr wie eine Alraunwurzel, in eine dunkle Kutte gekleidet. Er schwebte durch den Wald in der Nähe der Nonnenwiesen.«
Katharina kicherte. »Das klingt aber ganz menschlich.«
»Pssst, schweig lieber«, mahnte Maria sie. »Wenn er uns auf dem Rückweg heimsucht …«
»Soll ich
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