Die Schwester der Nonne
die Hände zum Gebet.
Hieronymus gab das zweite Kind an die Amme zurück und sank auf die Knie. Noch immer hoffte er, dass Elisabeth die Augen wieder aufschlagen, ihm ein Lächeln schenken und ihre Kinder in den Arm nehmen würde.
Je länger die gemurmelten Gebete dauerten, umso zorniger wurde er.
»Warum lässt Gott das zu?«, rief er mit flehender Miene. »Sie ist doch noch so jung.«
Benedictus stockte, warf ihm einen unwilligen Blick zu und setzte dann seine Gebete fort. Es erschien allen wie ein Wunder, als Elisabeth plötzlich die Augen aufschlug. Ihr Blick war erstaunlich klar, nur ihre Hand zitterte, als sie sie erhob. Eine Nonne eilte zu ihr und hielt die Hand fest.
»Maria«, hauchte Elisabeth. »Ich weihe Maria Gott. An ihrem achtzehnten Lebensjahr soll sie zu den Marienmägden gehen. Gebt sie in die Obhut Gottes.«
Benedictus riss seine kleinen Schweinsaugen auf, während die beiden Nonnen Dankesgebete murmelten und Elisabeths Hände hielten. Hieronymus hob den Kopf.
»Nein«, flüsterte er. »Nein, nicht ins Kloster.«
»Der letzte Wille der Sterbenden muss erfüllt werden«, belehrte ihn Benedictus.
So schloss Elisabeth im achten Jahr der gemeinsamen Herrschaft der Brüder Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht über die Wettinischen Lande in den Armen ihres Gatten Hieronymus Preller für immer die Augen.
Der Kuhturm
»Ich habe ihn.« Katharina jauchzte auf, als der bunte Schmetterling in ihrer hohlen Hand flatterte. »Lass ihn fliegen«, bat Maria. »Bestimmt ist er verängstigt. Stell dir vor, du würdest eingesperrt werden, obwohl du die Blumen und die Freiheit liebst.«
»Ach, was du bloß hast.« Trotzdem öffnete Katharina die Hand, der Schmetterling gaukelte davon, unentschlossen, auf welcher Blüte er sich niederlassen sollte. Sie beschattete mit der Hand ihre Augen und schaute dem Schmetterling hinterher. Zu ihren Füßen summten die Bienen und suchten in den Wiesenblumen nach Nektar.
Ein zeitiger Sommer war rund um die Stadt und im angrenzenden Auwald angebrochen, und bald würden die Mücken wieder zur Plage werden. Doch im Augenblick verströmte das nahe gelegene Rosental nur Duft und Liebreiz, und lockte so manchen Bewohner aus der Enge der Stadt hinaus, um die milde Luft zu genießen.
Katharina und Maria hatten die Stadt durch das Rannische Tor verlassen, um ins Rosental zu gehen. Die regelmäßigen Überflutungen des Auwaldes im Frühjahr zur Schneeschmelze waren längst vergessen und die Wege wieder passierbar.
Bis in den Wald hinein wollten die Mädchen aber gar nicht gehen. Mit der Überflutung waren die vielen Frühjahrsblumen verschwunden. Anemonen, Märzenbecher, Schlüsselblumen und die zarten weißen Sterne des Bärlauchs gaben sich immer nur ein kurzes Stelldichein. Wenn sich das Blätterdach mit dem Fortschreiten des Jahres schloss, wurde der Wald düster und unheimlich. Nur noch Lehmstecher und Flussfischer wagten sich dann dorthin.
Es gab jedoch nicht nur den Auwald mit seinen trügerischen Sumpfgebieten vor den Toren Leipzigs, sondern auch kleine Dörfchen und ausgedehntes Acker- und Weideland, Lehmstiche und Fischteiche.
Die alte römische Handelsstraße Via Regia führte, von der Königspfalz Merseburg kommend, weiter nach Osten über Leipzig, wo sie die Via Imperii kreuzte. Auf dieser Straße herrschte immer reger Betrieb. Kaufleute und Händler zogen mit ihrem Tross dort entlang, und die Bauern der Umgebung brachten ihre Waren in die Stadt. Vor allem die Imker aus den Flussauen waren gern gesehen, lieferten sie doch den köstlichsten Honig.
Darauf wollten die beiden Mädchen meist nicht warten, sondern kauften die Leckerei gleich am Ort der Entstehung.
»Komm, lass uns Thomas besuchen«, schlug Maria vor und zeigte auf ein seltsames hölzernes Gebäude, das in westlicher Richtung zwischen der Stadt und dem Dörfchen Lindenau lag. Das war der Kuhturm. Der Wächter des Kuhturms war ein Freund von Hieronymus Preller, sein Sohn Thomas ein Freund der Zwillinge.
»Oh ja«, stimmte Katharina freudig zu und beschleunigte ihren Schritt. Es war ein warmer Frühsommertag, und die beiden Mädchen kamen schon bald außer Atem.
»Lass uns eine Rast einlegen«, schlug Maria vor und suchte einen Platz unter einer prächtigen Eiche am Wegesrand.
Der Kuhturm war kein Bestandteil der Stadtbefestigung, sondern das Wachhaus für den Hüter der städtischen Kuhherde. Der Gemeindehirte war Angestellter der Stadt und wurde vom Stadtrat in dieses Amt berufen.
Seit
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