Die Schwester der Nonne
Äbtissin bestimmte eine erfahrene Schwester, die sich Marias annehmen, sie unterrichten und beaufsichtigen sollte. Diese Schwester hieß Gundula und mochte in Marias Alter sein. Allerdings lebte sie schon seit Kindestagen im Kloster und war an der inneren Schule unterrichtet worden. Dort lernte sie Lesen, Schreiben und Singen und wurde bereits im zarten Alter von zwölf Jahren zur Nonne geweiht.
Gundula besaß ein fröhliches, rundes Gesicht mit strahlend blauen Augen und einem herzförmigen Mund. Ihr heiteres Wesen und herzliches Entgegenkommen nahm Maria sofort für sie ein.
»Du wirst sehen, dass es dir bei uns gefallen wird und du dir gar kein anderes Leben mehr wünschst«, prophezeite Gundula und lächelte.
Maria kämpfte gegen ihre Beklemmung und den Kloß im Hals. Die Betäubung ließ sie willenlos allem folgen, was Gundula ihr anwies. Sie bekam ihre Bettstatt im Dormitorium zugewiesen, ihren Platz am Tisch und im Chor. Gundula erklärte ihr die wichtigsten Regeln, lehrte sie das Gehen und Stehen, das Knien und Reden nach der Ordnung des heiligen Bernhard von Clairvaux. Vor allem aber musste sie eines lernen – zu schweigen.
Siebenmal am Tag rief die Glocke die Nonnen zum Gebet. Gundula achtete darauf, dass Maria das Nachtgebet nicht verschlief, und schüttelte sie sacht an der Schulter, um sie zum Aufstehen zu bewegen.
»Was ist denn los?«, fragte Maria schlaftrunken. Im gleichen Moment drückte Gundula ihre Hand auf Marias Lippen.
»Pssst«, zischte Gundula warnend. Gleich darauf kam die Äbtissin herein und blickte sich mit strenger Miene um. Die Nonnen reihten sich hinter ihr ein, und der ganze Zug bewegte sich in gespenstischer Lautlosigkeit zur Kirche. Eine knarrende Tür ließ Maria zusammenfahren. In der eisigen Kirche versammelten sie sich zum Gebet. Neben der Äbtissin stand die Messnerin Margarete von Konritz, der die Aufsicht über das Gotteshaus mit allem Inventar oblag. Sie verwahrte die Schlüssel und trug die Verantwortung für die Hostien, die Gefäße, die Bücher auf dem Altar und die Ausschmückung des Gotteshauses, für die Reliquien, die Kerzen, den Weihrauch, das Glockenläuten. Von ihr wurde erwartet, dass sie ihre Mitschwestern an Enthaltsamkeit und Keuschheit noch übertraf, weil sie mit den Reliquien, Altargefäßen und Altardecken nur in Berührung kam, wenn sie gereinigt werden mussten. Schwester Margarete war sehr groß und dünn. Sie erinnerte Maria ein bisschen an Tante Brigitte. Wahrscheinlich besaßen alle dünnen Frauen eine spitze Nase wie ein Vogelschnabel.
Doch noch etwas anderes interessierte Maria an der Messnerin. Für ihr Amt musste sie sehr gebildet sein, denn ihr oblag es auch, anhand des Mondlaufs zu berechnen, wann die Gottesdienste stattzufinden hatten. Maria hätte sich gern mit Margarete über die Astronomie ausgetauscht, hatte sie ja genug Unterrichtung darin bei Magister Siebenpfeiffer erhalten. Doch mehrere Annäherungsversuche seitens Marias blockte Margarete ab.
»Sie hat bloß Angst, dass du es besser kannst als sie und sie dann ihre Aufgabe verliert«, raunte ihr Gundula in einem unbeobachteten Moment zu.
»Aber das will ich doch gar nicht«, erwiderte Maria. »Ich möchte nur eine disputatio mit ihr führen.«
»Eine disputatio? Sag mal, wo hast du denn vorher gelebt? Bei uns wird nicht diskutiert, bei uns wird gehorcht und geschwiegen.«
Mitten in der Nacht hatte Maria allerdings auch keine Ambitionen, überhaupt darüber nachzudenken. Sie bedauerte nur, dass damit auch ein Wissensaustausch verhindert wurde. Sie betete still und hoffte, möglichst bald ins Dormitorium zurückzukommen.
Ihre Bettstatt bestand aus einer harten, unbequemen Pritsche, die von den anderen Pritschen im Dormitorium nur durch einen weißen Vorhang abgetrennt war. Eine Binsenmatte diente zur Unterlage, ein grobes Betttuch, ein Kopfkissen und eine Wolldecke vervollständigten die Bettstatt. Zwischen den Pritschen brannten die ganze Nacht über Kerzen. Es wurde streng darauf geachtet, dass aus Gründen der Keuschheit niemals zwei junge Nonnen nebeneinander lagen. Deswegen unternahmen die wachhabenden Nonnen des Nachts auch ständige Kontrollgänge. Neben Maria schlief eine sehr alte Nonne, die jede Nacht unsäglich schnarchte.
Das Dormitorium, der Schlafsaal der Nonnen, befand sich in der oberen Etage des Klostergebäudes über dem Wärmeraum. Das war der einzige Raum, der im Winter beheizt wurde, und so bekam der Schlafsaal ein wenig von der Wärme ab.
Maria
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