Die Schwester der Nonne
Rüge musste sie immer eine zweite Nonne auf diesem Gang begleiten. Meist war es Gundula, die Maria als eine Art Mentorin zugeteilt war. Sie wies ihren Schützling auf alle Regeln im Kloster hin und wie sie sich zu verhalten habe.
Doch die lustige Gundula wusste auch so manchen Trick, wie gewisse Regeln zu umgehen waren. Maria warf einen Blick auf die schlafende Schwester. Es tat ihr unendlich Leid, sie zu wecken. Bis zu den Vigilien war es nur eine kurze Zeit, in der ihr etwas Schlaf gegönnt war.
Kurz entschlossen raffte Maria ihr Gewand und eilte auf Zehenspitzen aus dem Schlafsaal. Der Gang lag düster vor ihr, nur spärlich erhellt durch kleine Talglichter. Das flackernde Licht warf unruhige Schatten auf die Wände. Maria fürchtete sich. So leise wie möglich tastete sie sich die knarrende Treppe hinunter. Jederzeit konnte eine der Schwestern zu einem Kontrollgang erscheinen.
Aufatmend erreichte sie die Latrine. Nachdem sie sich erleichtert hatte, ließen die Krämpfe in ihren Därmen nach. Ihre Knie zitterten vor Schwäche und Kälte. Der beißende Geruch verursachte ihr Übelkeit. Sie wollte so schnell wie möglich wieder in ihr Bett. Irgendwo oben im Gemäuer schrie ein Käuzchen. Sie zuckte zusammen und bekreuzigte sich. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Nacht.
Da! Da war wieder ein seltsames Geräusch. Als wenn jemand leise weinte. Vor Angst und Entsetzen weiteten sich ihre Augen, als könnten sie so die Dunkelheit durchdringen und die Ursache dieses Weinens erkennen. Doch sicher war es ein Spuk, wie es so viele in alten Gemäuern gab. Die Amme hatte ihnen immer wieder Geschichten erzählt und auch Thomas, ihr Freund vom Kuhturm. Da gab es Kobolde und Hausgeister, umhergehende weiße Frauen und verhutzelte Mönche, Erscheinungen von weißen Rehen und redende Steine. Es sollte sogar Johannismännchen und kopflose Ritter geben. Früher hatte sie diesen Geschichten begierig gelauscht und so manches Mal drüber gelacht. Im Moment jedoch war ihr nicht zum Lachen zumute. Vielleicht war es nur ein Käuzchen, vielleicht eine kleine Katze, die sich verirrt hatte.
Ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander, und Schauer jagten über ihren Rücken. Das Weinen und Wehklagen wurde lauter. Kein Zweifel, es kam von einem Menschen. Die Stimme war weiblich. Ein Wassergeist vielleicht, eine Nixe? Trotz ihrer Angst tastete sich Maria weiter. Die Geräusche kamen von unten, aus dem Keller des Klosters. Noch nie war Maria dort gewesen. Sicher würde sie sich normalerweise nicht einmal bei Tageslicht dorthin wagen.
Eine steinerne Treppe führte hinab in ein unergründliches Dunkel. Modernder Geruch schlug ihr entgegen. Sie nahm ein Talglicht aus der Halterung an der Wand und tastete sich die Stufen hinab. Sie erschrak vor ihrem eigenen gewaltigen Schatten, der sie wie ein schwarzer Geist am Deckengewölbe verfolgte. Sie wollte umkehren, aber eine unsichtbare Gewalt zog sie hinab in den Keller. Ihre Hände waren taub vor Kälte, und ihr Herz raste wie nach einem heftigen Lauf.
Das Weinen und Klagen wurde lauter.
Mit dem Schienbein stieß sie gegen einen umgestürzten Hocker, der im Gang in der Nähe einer massiven Holztür lag. Irgendjemand hatte wohl Wache gehalten und dann seinen Platz verlassen.
Die Geräusche kamen unzweifelhaft aus einem Raum hinter der Tür. Maria nahm allen Mut zusammen und wollte den Riegel bewegen. Aber er blieb fest. Als sie das Talglicht senkte, bemerkte sie ein schweres Schloss davor. Was oder wer wurde hier gefangen gehalten?
In der Tür befand sich in Kopfhöhe eine Luke. Auch sie wurde durch eine Klappe mit Riegel verschlossen, aber der Riegel ließ sich bewegen. Vorsichtig öffnete Maria die Klappe, hob das Licht und lugte durch die Öffnung.
»Ist da jemand?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Drinnen schabte etwas gegen die Wand, dann klapperten Ketten.
»Wer ist da?«, wiederholte sie die Frage und hoffte, dass es irgendein Tier sein möge.
»Ich bin hier«, antwortete eine klägliche Stimme. Maria hob das Licht noch höher. In einer Ecke entdeckte sie eine Gestalt in einem zerrissenen weißen Kittel. Es war eine junge Frau mit kahl geschorenem Schädel und großen dunklen Augen. Zu Marias Entsetzen waren ihre Arme an die feuchte Kellerwand gekettet. Die Ärmste konnte sich nicht einmal hinlegen.
»Wer bist du?«, wollte Maria wissen.
»Schwester Dorothea. Sie halten mich gefangen.«
»Sie? Wer tut so etwas?«
»Die Äbtissin und die anderen Schwestern.«
Maria
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