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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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»gesellschaftlichen Skandals« stürzten, auch die
Details. Der Ehemann der Frau war ein reicher, älterer Herr, ein bekannter Architekt;
um den Mann trauerten die erwachsene Tochter und die Verwandtschaft einer
wohlhabenden Poliersfamilie! Und all das war so regellos, so wahnwitzig – ja,
wenn etwas »Ungehöriges« in diesem grotesken Unfall lag, so waren es das Alter
und die gesellschaftliche Position der Beteiligten. Kein Teil dieses wilden und
traurigen Abenteuers passte an das andere!
    Aber was war mit ihnen geschehen? Was für eine Kraft hatte diese
beiden Menschen gezwungen, so sinnlos, so regelwidrig ihr Leben zu zerstören?
Ist der Mensch so wehrlos? Erziehung, Moral, gesellschaftliche Gesetze, ist all
das nicht stark genug, um den Leidenschaften in verhängnisvollen Augenblicken
eine Grenze zu setzen? Dies ist ein sumpfiger Weg, und wohin kommen wir, wenn
wir Europäer diesen anarchischen Pfad beschreiten? Diese Revolte ließ sich nur
mit der Nervenkrankheit erklären. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass
Menschen mit gesundem Verstand, die zu Selbstkritik fähig sind, sich derart der
Schreckensherrschaft der Leidenschaft ergeben. Ich kann mich nicht damit
abfinden, dass es ein Gefühl gibt, das stärker wäre als der Verstand. Was würde
aus der Welt, wenn wir dieser Vermutung zustimmten? Welch anarchische
Möglichkeiten eröffnen sich, wenn wir auch in der Welt der Nüchternen und Gesunden
solche Ausbrüche annehmen?
    Daran dachte ich auf der Lichtung. Aber ich spürte, dass diese
Argumentation billig und ärmlich war – denn was aus der Welt würde, war eine
wenig zeitgemäße Frage in diesem Augenblick, in dem die Menschheit im Ganzen
auf den Betrachter wirkte wie ein gemeingefährlicher Irrer, der mit allen
Mitteln darum bemüht ist, sich selbst und seiner Umgebung Schaden zuzufügen.
Gab es keine Hoffnung für den Menschen? In diesem Augenblick fiel ein Schatten
auf den Schnee. Zwischen den Kiefern trat eine dunkle Gestalt hervor und ging
mit ruhigen Schritten über die mondbeschienene, verschneite Lichtung. Der Mann
ging mit unbedecktem Haupt, seine grauen Locken flatterten im Nachtwind. Ich
erkannte ihn. Es war Z. Ohne Eile kam er auf mich zu, reichte mir die Hand und
lächelte. »Der Stubenarrest ist zu Ende«, sagte er heiter. »Jetzt können wir
auf gnädiges Wetter hoffen.«
    Seine Stimme war mild und gleichmütig. Wortlos machten wir uns auf
den Weg durch den Wald auf das Gasthaus zu. Ich hätte ihm gern etwas über das
gesagt, von dem mein Herz und Verstand in dieser Stunde erfüllt waren. Aber in
der kurzen Zeit, während der wir durch den Wald gingen, musste ich gespürt
haben, dass auch dieser Mann nicht zu denen gehörte, die glauben wollten, dass
der Verstand unbedingt stärker ist als die Empfindungen. Dieses Gefühl war
beunruhigend. Ich schwieg. Z. ist Künstler – so dachte ich, als ich an seiner
Seite durch den tiefen Schnee stapfte –, und der Künstler ist in der
menschlichen Gesellschaft derselbe erstaunliche Überschuss wie das Gefühl in
der menschlichen Struktur. Ich konnte nicht von ihm verlangen, dass er sich mit
Haut und Haar auf die Seite des Verstandes stellte. Und zugleich – in all den
gemeinsam verbrachten Tagen dort oben auf dem Berg hatte ich das nicht so stark
gespürt – lebte dieser Mann außerhalb aller gesellschaftlichen und menschlichen
Übereinkünfte. Was konnte ich ihn fragen? Ich spürte, dass auch er einer der
freiwilligen Auswanderer war, die vor den Angriffen der Zeit in den Urwald einer
riesigen Einsamkeit geflohen waren wie zur Zeit des Tatarensturmes die Priester
mit den heiligen Rollen. Seine Disziplin, sein vollkommenes Benehmen, seine
Höflichkeit, die wortlose Ruhe, mit der er hier an meiner Seite bergauf ging,
auf dem steilen, rutschigen Bergpfad, all das wirkte eher distanzierend, als
dass es zu einem Gedankenaustausch einlud. Aber als wir ans Haus gelangten, das
mit seinen geschlossenen Rouleaus blind und mit kompakter, zwergenhafter Kraft
dunkel auf dem Berggipfel stand – auch hier oben, in der Welt der
schneebedeckten Gipfel, wurden die Verdunklungsbefehle befolgt, als stünde zu
befürchten, dass ein Flugzeug auf dem Beutezug gerade hier eine von den
erbarmungslosen Bomben fallen ließ –, blieb Z. stehen. Der Mond beleuchtete scharf
sein Gesicht, das in dem kalten, harten

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