Die Schwester
religiös zu sein, weil sie
sich fürchten, und die beten, die flehen zu den Heiligen. Aber auch das ist
nicht die absolute Beziehung zu Gott, ohne die das Leben nichts anderes ist als
eine Serie fürchterlicher Unfälle. Wer Gott kennt, ist vielleicht nicht einmal
immer religiös. Ich beispielsweise bin überhaupt nicht religiös«, sagte er
gleichmütig. »Ich gehe manchmal in die Kirche, aber ich schaue mir eher die
schönen Bilder an oder genieÃe die alte Musik und sehe den ernsthaften, reifen
Bewegungen des Rituals zu. All das ist sehr schön, aber so billig kommt man
Gott nicht nahe. Es braucht auch Opfer«, sagte er eigensinnig. Er sprach ohne
Umschweife und Einleitung wie jemand, der nicht versteht, warum er in einem
Gespräch zwischen zwei Menschen über etwas anderes reden sollte als über das
Wesentliche.
»Die Frau war nervenkrank«, wiederholte ich leicht verlegen, wie
jemand, der diesen vertraulichen Informationen nicht weiter nachgehen und auf
dem Boden der Tatsachen bleiben wollte.
»Ja«, sagte er, »die Ãrmste. Und der Mann fiel dem kranken Willen
zum Opfer, den die Nerven der Frau ausstrahlten.« Leise und vertraulich fügte
er hinzu: »Dieser Mann war vollkommen dumm. Durch die dünne Bretterwand hörte
ich ihre nächtlichen Gespräche, ob ich wollte oder nicht. Er war dumm wie ein
Holzklotz. Er verstand überhaupt nicht, was mit ihm geschah. Geweint hat er,
die Frau angefleht, dass sie in die Stadt zurückkehren sollten, zu ihren
Familien. Stellen Sie sich nur vor, der Ãrmste fühlte sich, als hätten ihn
Bösewichte entführt â er verstand einfach nicht, was er hier suchte, an der
Seite der alternden Frau, oben auf dem Berg, in einem Hotelzimmer, fern von
allem, was der Sinn seines traurigen und einfachen Lebens war. Fern von der
Arbeit, von der Familie, von seinen schmierigen kleinen Machenschaften, fern
von seinem Freundeskreis, fern von den Menschen, für die Liebe niemals etwas
anderes war als ein kleines Geschäft, händereibend und katzenfreundlich
abgewickelt zum eigenen Vorteil â er verstand einfach nicht, was Gott von ihm
wollte, als er ihn so aus seiner Lebensbahn warf. Das verstehen die Menschen
selten.«
Ich schwieg. All das war, selbst im Mondlicht und in der
ahnungsvollen Stimmung des abendlichen Zaubers, übertrieben, es hörte sich an,
als spräche jemand vom jenseitigen Ufer aus.
»Ich glaube immer mehr an Opfer«, fuhr er dann fort. »Und was jetzt
in der Welt geschieht, ist nichts anderes als ein Opfer. Was meinen Sie, nehmen
die groÃen Völker, nimmt die gesamte Menschheit ohne Grund diese Leiden auf
sich, vergieÃt Blut, zerstört die schönsten Gebäude und Einrichtungen? Glauben
Sie wirklich, dass allein der Wille irrgläubiger und schlechter Menschen all
das verursacht? Ist die Ohnmacht, mit der die Menschen dem Willen der
Kriegsführer gehorchen, tatsächlich so tief, dass sich eine Milliarde Menschen
nicht gegen den Willen einiger Männer und einiger Systeme wehren kann und blind
alle Arten der Selbstvernichtung durchführt?« Jetzt sah er mir starr ins
Gesicht.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich ruhig. »Aber die Ohnmacht
groÃer Massen ist ein auÃergewöhnlich komplexes Phänomen. Und es ist sicher,
dass einige Männer und einige Systeme, wie Sie sagen, mit ihren brachialen
Strukturen Milliarden von Menschen über längere Zeit ihren Willen aufzwingen
können. Wir sollten die Wirklichkeit nicht unterschätzen.«
Er sah in den Mond. Dann sagte er, mit gläsernem Blick: »Die
Menschen wollen Opfer, weil sie nur so hoffen können, dass sie Gott wieder
begegnen. Sie wollen Opfer, deshalb nehmen sie all das auf sich. Weil sie ohne
Gott nicht leben können.« Er sah in den Mond, und ich beobachtete sein Gesicht.
Er rührte sich nicht von der Stelle, und auch ich hatte es nicht
eilig, ins Gasthaus zu kommen, wo uns die vorhersehbar einfachen Freuden des
Heiligen Abends erwarteten: fettige Speisen, ein Festtagsschmaus, den die
Augenzeugen des Dramas am Vormittag gewiss nicht versäumen würden zu begehen,
wie es sich gehörte.
»Wir haben uns verirrt«, sagte er jetzt. Er wandte sich zu mir und
lächelte freundlich, höflich, als wollte er um Verzeihung bitten. »Aber
heutzutage verirren sich so viele, wenn sie nach dem Sinn der Erscheinungen
forschen, vielleicht haben auch wir
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