Die Schwester
Licht schimmerte wie eine Maske auf der
Bühne, im tödlichen Strahl künstlichen Glanzes. Dieses Gesicht war weiÃ,
sehnig, knochig â und es lächelte. Es war ein sonderbares, kaltes, starres
Lächeln. Ja, wie eine Maske in einem alten Drama gelächelt haben mochte, als
die Schauspieler noch Larven trugen. Dieses Lächeln war weder spöttisch noch
vertraulich, es war diszipliniert, improvisiert, als wäre es mit weiÃer Farbe
auf das schlanke Gesicht gestrichen. Eine Zeit lang standen wir stumm. Z. regte
sich nicht, auf seinen Stock gestützt, schien er in der sonderbaren Kulisse von
Abend und Mondlicht auf ein Zeichen zu warten wie ein Schauspieler, der den
Wink des Regisseurs erwartet, um mit dem Sprechen zu beginnen. Dieses stumme,
kalt lächelnde, alte Männergesicht mit den scharfen Zügen wirkte im Mondlicht
gespenstisch.
»Warum lächeln Sie?«, fragte ich unwillkürlich und ruhig. Das war
eine persönliche Frage, eine Art Angriff, sie passte nicht zu dem Tonfall, der
sich zwischen uns herausgebildet hatte, aber ich konnte nicht mehr schweigen.
Das kalte Lächeln verschwand nicht von seinem Gesicht, seine Augen
sahen mich mit gläserner Starre an, sein Gesicht lächelte, aber die Augen
nicht. »Vielleicht muss man ein Opfer bringen«, sagte er so langsam und
gedehnt, wie ein Erwachsener mit einem Kind spricht, wenn er schwer
verständliche Kenntnisse mit schlichten und wesentlichen Worten erklären will.
»Sie denken an die Toten«, sagte ich, wie ein guter Schüler, der das
Wesentliche der Lehre verstanden hat.
Er nickte. »An die Toten«, sagte er ernst und dehnte das Wort, »und
an all die anderen, die in dieser Stunde gehen. Und morgen, für immer.«
Ich fühlte mich unbehaglich und bemühte mich, lächelnd und in
leichtem Ton zu antworten, als könnte ich dem Gespräch in dieser Stimmlage
etwas von seinem düsteren Sinn nehmen. »Zu jeder Zeit glaubten die Völker an
das Opfer«, sagte ich, »aber manchmal ist es sehr schwer, seinen Sinn zu
verstehen. Besonders den Sinn von Menschenopfern.«
Eigensinnig erwiderte er: »Opfer müssen gebracht werden. Anders gibt
es weder Veränderung noch Erlösung.«
Wir rührten uns nicht. »Das sind alte Gefühle«, antwortete ich
nachgiebig. »Und doch kann ich nicht glauben, dass diese beiden Unglücklichen
ihr Leben bewusst geopfert haben. Es gibt auch die Nervenkrankheit. Es gibt
auch Unfälle.«
Er nickte zustimmend und stützte sich mit beiden Händen auf seinen
Stock. »Der Wert des Opfers hängt nicht davon ab, wie sehr der, der geopfert
wird oder sich selbst opfert, an die Erlösung glaubt. Das Opfer ist eine
Tatsache. Sie sehen, das Wetter hat sich geändert«, sagte er und blickte zu den
verschneiten Bäumen, die im Mondlicht badeten. Dieser gläserne Blick, das
Mechanische in seiner Stimme, sein feierlich ernsthaftes Benehmen und das kühle
Lächeln, das nicht von dem schlanken, priesterlichen Gesicht wich, bestürzten
mich. Kalt lief es mir den Rücken hinunter. Dieser Mann ist verletzt, dachte
ich im selben Augenblick. Vielleicht war er deshalb von der Weltbühne
verschwunden. Aber wo war er verletzt? An der Seele oder am Körper? Die
lächelnde, weiÃe Maske antwortete nicht auf diese stumme Frage.
»Der Wetterwechsel ist eine Tatsache«, erwiderte ich, »und ebenso
auch, dass diese beiden Unglücklichen gestorben sind. Aber Sie können nicht im
Ernst behaupten, dass es zwischen diesen beiden Tatsachen einen Zusammenhang
gibt!«
Geduldig antwortete er: »Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich
denke nur laut nach. Ich bin ein Mensch und glaube immer mehr, dass alles, was
die Menschen angeht, nicht nur für sich existiert, sondern auch vom Menschen
abhängt. Zwischen Natur und Menschen könnte es Zusammenhänge geben, die wir
nicht kennen. Denn hinter allem ist Gott.« Er sagte es einfach, ohne Betonung,
natürlich und mitteilsam, als bemerkte er: »Es gibt nur dort organisches Leben,
wo Luft ist«, als erwähnte er ganz beiläufig eine allgemein bekannte,
alltägliche Tatsache. »Viele Menschen wissen das nicht und leugnen Gottes
Existenz. Das war zu allen Zeiten so. Unsere Zeit ist deshalb so unglücklich, weil
sie Gott nicht mehr unmittelbar spürt. Religion gibt es noch, ja, aber das ist
nicht dasselbe. Und es gibt Menschen, die glauben,
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