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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Vergebung verdient. Ich wollte nur sagen,
dass jeder Volksglaube die Notwendigkeit des Opfers verkündet. Die Primitiven
töten oft jemanden, wenn Regen oder Sonnenschein zu lange ausbleiben. Ich
glaube natürlich nicht, dass ein Zusammenhang zwischen dem Wetterwechsel hier
oben und dem Selbstmord unserer beiden unglücklichen Mitbewohner besteht,
verstehen Sie mich nicht falsch. Ich glaube nur, dass es zwischen allen
Erscheinungen Zusammenhänge gibt«, jetzt klang seine Stimme lebhaft und hart,
»weil hinter allem Gott ist. So lautet mein Glaube. Und dieser Glaube ist so
stark, dass er in keiner Religion mehr Platz hat. Wenn ich die Erfahrung machen
muss, dass sich außerordentliche oder ungewohnte Erscheinungen
aneinanderreihen, forsche ich nicht lange nach den wahrscheinlichen
Zusammenhängen, sondern gebe mich damit zufrieden, dass dies und jenes zur
gleichen Zeit geschah, dass also die eine Erscheinung erklärbar oder manchmal
lediglich wahrnehmbar mit einer anderen zu tun hat. Die Menschen werden sonderbar
taub«, sagte er lebhaft, »und sie werden es nicht nur für Töne. Sie werden taub
in den dumpfen Geräuschen des Lebens, hören das Wesentliche nicht, nehmen
Mahnungen nicht wahr. Aber Gott spricht ständig zu uns und mahnt uns. Natürlich
spricht er nicht mit donnernder Stimme aus den Wolken. Manchmal spricht er ganz
leise. Seine Ratschläge und Mahnungen sind wortkarg. Wer hat gesagt, er habe
sein Leben lang eine Stimme gehört, die ihn mahnte, Dinge nicht zu tun, aber
eine Stimme, die ihm einflüsterte, was er zu tun habe, habe er niemals gehört?
Sie erinnern sich nicht? Ich mich auch nicht. Vielleicht war es Goethe.
Schließlich lastet man alle derartigen Weisheiten Goethe an. Ja, Goethe hatte
das absolute Gehör. Nicht ohne Grund hasste er das Monokel und alle Instrumente
und Hilfsmittel, die den Menschen faul machen, sodass er nicht mehr bereit ist,
die Erscheinungen der Welt unmittelbar wahrzunehmen. Die Menschen der großen
alten Kulturen, die assyrischen, babylonischen, chaldäischen Wissenschaftler,
Sternforscher, Physiker, Chemiker lebten auch ohne Instrumente ganz nah an den
Geräuschen der Welt, hörten alle Töne im Himmel und auf der Erde, nahmen sie
wahr und zogen genaue Schlussfolgerungen. Wir, mit unseren Fernrohren und
Retorten, erkennen die Details genauer, sind aber vom Ganzen weiter entfernt.
Gott flüstert den Menschen nicht zu, was sie tun sollen, denn ihr Schicksal ist
es, dass sie einen freien Willen haben. Aber wer noch nicht ganz taub ist, hört
doch immer die verbietende Stimme. Die beiden waren schon taub, die Ärmsten«,
sagte er mit einer überlegenen, verzeihenden Bewegung und wies auf das Tal, wo
die beiden Toten jetzt in einer dörflichen Leichenkammer ruhten. »Sie sind taub
geworden vom Lärm der missgestalteten Leidenschaft, die auf sie eingestürzt ist
wie Donnergetöse und Wasserfall. Was glauben Sie, was zwischen ihnen gewesen
sein mag? Ein sinnlicher Blitzschlag mit hoher Temperatur? Das glaube ich
nicht. Was treibt solche Menschen zusammen, was reißt sie aus ihrem Heim, aus
ihrer Familie, ihren sicheren Kleinigkeiten, was jagt sie in die Wüste oder auf
den Berggipfel, wo sie zugrunde gehen wie wehrlose Tiere, wenn sie hinterm
Rudel zurückbleiben? Was ist diese Kraft?«, fragte er laut und richtete sich
auf.
    Hager stand er im funkelnden, kalten Licht, auf seinen Stock
gestützt war er jetzt so eine sonderbare Erscheinung wie ein alter biblischer
Hirte mit weißem Gesicht, flatternden Locken und starrem Blick – ein Hirte, der
über das Schicksal seiner Herde grübelt. Ich störte ihn nicht.
    Â»Gehen wir hinein?«, fragte er dann und wies mit der Spitze seines
Stockes auf das Tor des dunklen Hauses.
    Seine Stimme klang entschuldigend, als wollte er um Verzeihung
bitten für die Leidenschaftlichkeit, mit der er auf meine Frage geantwortet
hatte. Nach mehrtägigem höflichen Schweigen hatte er die Stille mit einer
unverhältnismäßigen, wilden Vertraulichkeit gebrochen und bat dafür um
Entschuldigung. Aber in Wahrheit hatte ich diese vertrauliche Mitteilsamkeit
weder als übertrieben noch als ungewöhnlich empfunden. Was dieser Situation
vorangegangen war, der außergewöhnliche Augenblick, der mild-beklemmende Zauber
des Heiligen Abends und die unbedingte Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit, die
vielleicht von Z.s Wesen noch mehr ausging

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