Die Schwester
darf man weder um eine
Frau werben noch sie lieben. Die Musik ist eine unpersönliche Beziehung
zwischen Menschen und All, eine immaterielle Bindung. Was dachtest du denn? Es
ist frivol, was geschehen ist. Es war ein krankes Unterfangen, vergiss es. Und
jetzt wird sowieso alles anders sein. Wusstest du das schon?«
Gehorsam, demütig antwortete ich:
»Ja, ich weià es. Erst seit wenigen Minuten. Wie wird es sein?«,
fragte ich neugierig. Und nach langem Schweigen antwortete die Stimme leise,
als hätte sie sich in weite Ferne zurückgezogen: »Anders.«
Dann folgte tiefe Stille. Ich schloss die Augen und hörte auf das
Rattern der Räder. Ich zweifelte nie daran â weder damals noch später â, dass
in diesen Augenblicken eine wirkliche Stimme zu mir gesprochen hatte, die man
vielleicht auf einem Aufnahmegerät hätte festhalten können. Ich wusste auch,
dass nicht Gott zu mir sprach â Gott spricht nie mit Worten â, sondern eine
körperlose Person. Vielleicht ein Engel. Aber die wahre Natur derartiger
Erscheinungen können wir ohnehin niemals erkennen, deshalb forschte ich nicht
weiter nach, wer da sprach. Ich lag auf der Liege, an den Rändern des
Lederrouleaus schimmerte schon das Morgenlicht herein. Es herrschte eine
wunderbare Ruhe im Abteil, in mir, in meinem Herzen und meiner Seele. Ruhe,
eine Art Heiterkeit, als wäre ich versöhnt. Viel Zeit verging, vielleicht sogar
Stunden. Mein Körper war vollständig durchdrungen von dem Bewusstsein, dass ich
jetzt nichts mehr tun musste, weil etwas begonnen hatte, das vorher nicht da
war, und dass ich auch gar nichts tun konnte, weil das, was begonnen hatte, von
meinem Willen unabhängig war. Was war das für ein Gefühl? Weder gut noch
schlecht. Und weil es mich plötzlich getroffen hatte, wie wenn jemand pfeifend
die StraÃe entlanggeht und unerwartet mit einem Knüppel ins Genick geschlagen
wird, blieb mir weder Zeit für Furcht noch für Ãberraschung. Jetzt war die
Veränderung da, und was konnte ich schon tun? Ich konnte mich anziehen und
rasieren. Ich bewegte die Hände, als wollte ich mich davon überzeugen, dass ich
noch Herr meiner Fähigkeiten war. Meine Hände bewegten sich gehorsam. (Drei
Wochen später bewegten sie sich nicht mehr so gehorsam.) Was kann ein Mann tun,
dessen Leben sich spaltet, als klaffte mitten in einem Erdbeben der Boden auf
und als bräche das friedliche Haus einer Familie entzwei? Nichts kann er tun.
Er liegt auf der Erde oder dem FuÃboden, wie ich auf der Liege lag, schaut zu
und wartet auf etwas. Dann rappelt er sich auf und sucht seinen Platz in der
veränderten Lage. Ich trat ans Fenster und zog das Rouleau hoch. Der Zug fuhr
auf Triest zu, hoch am Hügelhang. In der Tiefe waren der Leuchtturm zu sehen
und das Meer. Im Sonnenschein glitzerte das Wasser weià und glatt; es war so
weich, weià und geschwollen wie der Bauch eines ans Ufer geschwemmten
Walfischs. Ich zog das Fenster herunter, Morgengeruch, der warme, weiche Duft
von Meer und September strömte auf mich ein. Ich beugte mich hinaus und badete
mein Gesicht in Licht und lauer Luft.
Jetzt hörte ich keinerlei Stimme mehr. So wie ich nie zuvor im Leben
diese Stimme gehört hatte und sie auch später, in den folgenden schweren
Stunden und Jahren, niemals wieder hörte. Ich weià nicht, ob ich sie jemals
wieder hören werde. Es war nicht meine Stimme, das ist gewiss. Auch nicht »die
Stimme meines Gewissens«. Diese Stimme kannte ich nicht â und schlieÃlich
verstehe ich mich in einem gewissen MaÃe auf die Schattierungen von Stimmen â,
und ich kann nicht sagen, ob es eine menschliche Stimme war oder eine andere,
musikalisch gefärbte, unmenschliche. Ich wusste nur, dass jemand zu mir
gesprochen hatte. Ich kann auch nicht mit Sicherheit sagen, dass es ein Engel
war, denn ich weià nicht, ob es Engel gibt. Vielleicht sind die Engel nur eine
Erfindung der Menschen. Und wenn es sie gibt, sprechen sie dann zu den
Menschen? Vielleicht ist das, was die Menschen über die Engel sagen, nur
Einbildung. Ich bin niemals einem Engel begegnet. Deshalb stand ich bloà am
Fenster, und weil ich über Gott und die Engel nichts wissen konnte, badete ich
mein Gesicht in dem lauen, nach Salz und Jod duftenden Wind und wusste, dass
heute Nacht irgendetwas geschehen war, dass ich etwas begriffen hatte â nicht
mit dem Verstand, sondern
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