Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Schwein durch die Menge, obwohl innerhalb der Mauern – abgesehen von den nötigen Reit- und Zugtieren – kein Vieh gehalten werden sollte, das größer war als eine Gans. Damen und Herren flanierten, Köchinnen und Dienstmädchen eilten mit ihren Körben, dazwischen suchten und fanden Fuhrwerke, Karren und Kutschen ihren Weg. Heute fehlte nicht einmal Musik, die immer zu einer guten Aufführung gehörte, sei es Komödie oder Trauerspiel. Nahe dem Pranger, an dem zum Glück heute niemand seine Strafe erlitt, musizierten ein Lautenspieler und ein Flötist tapfer gegen den Lärm der Menge an. Sie waren nicht schlecht, doch schon der sanfte Wind nahm die meisten ihrer Töne mit sich.
Der Lautenspieler war blind, zumindest ließ das seine Augen bedeckende Tuch darauf schließen. Der kleine Flötist erwies sich beim Näherkommen als Mädchen, ein Kind von vielleicht elf Jahren, Rosina warf eine Münze in den Strohhut zu ihren Füßen. Er war leer, hoffentlich nur, weil die Musikantin rasch jede eingeworfene Münze herausfischte, bevor sie jemand stahl.
So wie sie selbst vor Jahren, als sie mit ihrer Flöte auf dem Marktplatz einer anderen Stadt gestanden hatte, vor den Füßen keinen Hut, sondern eine kleine Holzschale. Es war bei dem einen Mal geblieben, denn bald war der Büttel gekommen und hatte sie am Schlafittchen gepackt. Für ein Mädchen, das mit den Wanderkomödianten herumzog, war ihre silberne Querflöte viel zu wertvoll. Es hatte große Überredungskunst und schließlich einen ganzen Tagesverdienst der Theaterleute gekostet, sie samt der Flöte wieder freizubekommen. Helena hatte geschimpft und Jean, ihr Prinzipal, gelacht. Das Mädchen beweise Initiative, hatte er gesagt, Stolz in der Stimme. Schließlich hatte er sie damals halb verhungert auf der Straße aufgelesen und mit zu seiner Komödiantentruppe genommen. Selbst wenn in besonders harten Zeiten die Versuchung groß gewesen war, die Flöte zu verkaufen, war es ihr gelungen, sie zu behalten, das Einzige, was sie einst aus ihrem Zuhause mitgenommen hatte. Während all der Jahre, dachte sie mit einem Anflug von Trauer und Sehnsucht. Sie verstand dieses Gefühl nicht. Alles war doch gut ausgegangen.
Eine elegante Kutsche hielt wenige Schritte entfernt und zog ihren Blick an. Das zweisitzige Kabriolett wurde von einem nicht minder eleganten Herrn gelenkt. Da es im März noch ein wenig verwegen war, mit heruntergeklapptem Verdeck zu fahren, lag um seine Schultern ein mit einem breiten Pelzkragen besetzter Umhang. Als der Mann in der Kutsche den Dreispitz abnahm und nachlässig auf den freien Platz neben sich warf, erkannte Rosina, wer da die Blicke auf sich zog. Der Seidenhändler Pauli, ehemals Dienstherr der Toten aus der Alster und Auftraggeber für Magnus’ Reise nach dem Süden. Er beugte sich mit verbindlichem Lächeln aus seinem leichten Gefährt zu einer Dame hinunter, deren für den Tag zu üppiges Gewand aus großgeblümtem Zitzkattun von einem maronenfarbenen Samtumhang kaum verdeckt wurde. Rosina erkannte Madam Schwarzbach, die Gattin eines der bedeutenden Kattunmanufakteure. Sie war für ihre Neugier wie für ihr mit schriller Stimme unermüdliches Plappern bekannt. Madam Schwarzbach musste es wirklich eilig haben, denn schon nach einer Minute und bevor Pauli höflich aussteigen konnte, winkte sie mit neckischem Augenaufschlag und eilte davon. Ihre alte Bedienstete, in jeder Hand einen vollen Korb, konnte kaum mit ihr Schritt halten.
Rosina erinnerte sich, dass Monsieur Schwarzbach wiederum für seine Strenge und Humorlosigkeit bekannt war, auch für seine harte Hand. Niemand konnte sich erklären, warum Madam Schwarzbach, damals die wohlhabende Witwe Marburger, sich zu dieser Ehe entschlossen hatte. Sie tat wohl gut daran, nun nicht zu spät zu kommen.
Und da betrat schon die nächste Person die Bühne. Sie tauchte aus den von Menschen und Wagen, Pferden und Gebäuden gebildeten Kulissen auf, ganz in Grau gekleidet, um die schmalen Schultern nur ein kurzes schwarzes Cape, das Gesicht mit der hellen Haut rosig von der frischen Luft, auf dem Kopf keine Haube, sondern ein kleidsames, weiches graues Tuch. Pauli öffnete den Schlag und sprang mit jugendlichem Elan vom Wagen, und Rosina, die gerade ihren Weg hatte fortsetzen wollen, blieb noch einmal stehen. Hatte sie je behauptet, Neugier sei ihr fremd? Die junge Frau kam ihr bekannt vor, leider geschah das auch hier und da ohne Grund, sie wirkte nicht wie eine Tochter oder junge Ehefrau aus
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