Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Wintern zu, so dick und sicher wie in diesem war das Eis jedoch selten. Es trug auch große Schlitten und Wagen bis nach Harburg an der Süderelbe, wer dort Geschäfte hatte, beeilte sich, hinüberzukommen.
Wenn das Eis erst zu brechen begann, gab es für viele Tage, womöglich für Wochen kein Hinüberkommen, bis es völlig geschmolzen war und die Ewer wieder Segel setzen und ihren Weg durch die Windungen der verzweigten Flussarme suchen konnten. Bei schlechtem Wind oder mit einem unfähigen Schiffer dauerte die Reise viele Stunden. So war in diesen Winterwochen immer viel Betrieb auf der Elbe, in einigen, nämlich den mondhellen Nächten bis weit in die nachtschlafende Zeit. Von den südlichen Wällen oder Bastionen wirkten die sich rasch vorwärtsbewegenden und endlich im fernen Dunkel verlierenden Laternen, ohne die sich kein Schlitten auf das nächtliche Eis wagte, wie Irrlichter.
Im Februar, zur eigentlich kältesten Zeit des Jahres, wehte plötzlich ein trügerischer frühlingswarmer Wind aus Südwest und ließ das Eis brüchig werden. Wem sein Leben lieb war, blieb nun wieder an den sicheren Ufern. Nur die Milchbauern von den Strominseln kamen weiter mit ihren Lastschlitten nach Hamburg und riskierten alle Tage ihr Leben, um ihre schnell verderbliche Ware zu verkaufen. Dort, wo der Fluss sich unter dem Eis am stärksten bewegte, sei es schon mürbe, so berichteten sie; wer zu sehen verstehe, erkenne die Schollen, die bald aufbrechen würden.
Wenn sie unter sich waren, sprachen sie auch darüber, dass es nun bald geschehen werde. Dass einer unters Eis müsse. Mindestens einer. Wie in jedem Jahr. Es gab alte Geschichten von Neunmalklugen, die einen Hund oder eine Katze, einmal sogar ein zu früh geborenes halbtotes Kalb ins eisige Wasser gestoßen hatten. Gerade die hatte es getroffen. Der Winterfluss ließ sich nicht um den fälligen Tribut betrügen. Das wusste jeder, es hatte auch lange keiner mehr versucht. So blieb stets nur die Hoffnung, der Fluss sei noch satt vom letzten Jahr und werde sich milde zeigen. Denn er war nicht gierig. Das war er noch nie gewesen, auch das wusste jeder.
Unters Eis? Müsse? Ein junger Mann, der manchmal bei ihnen saß, wenn sie sich mit einem Krug heißen Bieres wärmten, bevor sie den langen Rückweg antraten, und diesmal unbemerkt herangetreten war, lachte spöttisch.
«Das ist doch Unsinn», rief er, «der Fluss ist ein Fluss, kein Gott oder Teufel.» Wer gut achtgebe und schnell sei, wer die Geräusche, die das Eis bei Tauwetter mache, zu deuten verstehe, seine Färbungen auch, gerate nicht unters Eis und saufe ab wie eine Ratte. «Es sei denn», fügte er dann doch hinzu, «er hat Pech. Verdammt viel Pech.»
Das Letzte klang, als spucke er es aus. Jedes Wort einzeln.
Die andern starrten schweigend in ihre Bierkrüge. Was sollte man dazu auch sagen? Der Junge wusste es eben nicht besser, er war keiner von den Inseln. Überhaupt nicht von hier. Nur ein Flößer, der im Herbst mit dem Holz aus dem Osten die Elbe heruntergekommen und für den Winter in der Vorstadt St. Georg hängen geblieben war. Sie wussten nicht genau, warum. Da war wohl irgendwas mit seinem Bein, das rechte zog er nach, nur leicht, aber ein Flößer brauchte zwei gesunde und starke Beine. Sonst gehörte er zu den Ersten, die der Fluss, egal welcher, sich holte. Wahrscheinlich war er zwischen die Stämme geraten, sie hatten nicht darüber nachgedacht, auch nicht gefragt. Jeder konnte sich zu ihnen setzen, sogar eine Kanne Bier spendieren, wenn aber so einer anfing, Reden zu führen oder seltsame Fragen zu stellen, dann mochten sie ihn nicht. Ob er nach dem Eis fragte, wie lange es noch halte oder ob es in jedem Winter so sei, oder wissen wollte, ob sich schon mal Fremde auf den Inseln angesiedelt hätten, er überlege das selbst – so einer bekam auch keine Antworten.
Der Flößer war ein Schwätzer. Mochte sein, der kannte sich mit fließendem, sogar reißendem Wasser aus – die Arbeit mit dem Holz war gefährlich –, von den besonderen Tücken der Wasserläufe zwischen den Elbinseln wusste er trotzdem nichts. Schon gar nichts bei Eisgang. Niemand hatte es ausgesprochen, alle hatten es gedacht: Wer so redet, während das Eis knackte, ächzte und flüsterte und erste Spalten und Pfützen bildete, beleidigte den Fluss. Womöglich erübrigte sich nun die Frage, wen sich die Elbe als Nächsten holte. Der Gedanke war nicht schlecht – besser ein Fremder blieb unterm Eis als ein Bruder oder
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