Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
wohlhabendem Haus, wie Pauli sie aus seinen Kreisen kannte, sie wirkte eher wie, ja, wie …
«Sieh dir das an, Vita», zischte da eine Stimme hinter ihrem Rücken, «sieh dir das nur an. Jetzt hält er der Person den Schlag auf und lädt sie in seine Kutsche ein. Was sind das für Sitten!? Ich habe ja immer gesagt, der Pauli ist ein Luftikus. Du solltest deinem Mann sagen, dass er mit dem besser keine Geschäfte macht. Und jetzt! Sieh doch, jetzt plaudert er mit ihr, plaudert! Als wäre die Person nicht nur eines der Mädchen von den Hegolts.»
«Ach, Liebe, nicht nur ‹eines der Mädchen›. Sie ist doch die Gouvernante, Mlle. Meyberg. Das ist ein Unterschied, findest du nicht? Die kommen oft aus recht gutem Haus, sie soll sehr tüchtig sein, und ihre Manieren sind tadellos.»
«Tadellos? Ich nenne das schamlos, Vita. Dienstbote bleibt Dienstbote. Nur weil eine Französisch plappern kann und auf dem Pianoforte dilettiert, wird sie noch lange keine von uns. Die arme Madam Pauli, ja, die Arme. Man sollte sie darüber nicht im Ungewissen lassen, das sollte man wirklich nicht.»
Die Stimmen klangen nach zwei gesetzten Matronen, die großmütigere versicherte noch, Madam Pauli sei so klug wie hellsichtig, es sei unnötig, ihr solche Dinge zu berichten. Im Übrigen halte sie Mlle. Meyberg für eine ernsthafte junge Frau. Gerade wenn man ihr noch recht jugendliches Alter bedenke. Als Rosina sich endlich wagte umzudrehen, waren die beiden in der Menge verschwunden.
Egal, wer sie gewesen waren, die, die Pauli nun charmant nach links und rechts grüßend über einen der belebtesten Plätze Hamburgs kutschierte, war die Gouvernante der Hegolts. Und plötzlich begriff Rosina, dass sie just die Frau war, die das Kind mit den kranken Beinen über das Eis geschoben hatte – plus vite, Mademoiselle, plus vite –, als es schon brüchig zu werden begann, die Tochter von Monsieur Hegolt, dem Kaufmann und neuen Provisor des Waisenhauses.
Rosina fand nichts dabei, wenn Pauli eine Gouvernante nach Hause kutschierte. Solche Zeiten sollten wirklich vorbei sein. Nun gut, vielleicht saßen sie tatsächlich ein wenig nah beieinander, andererseits bot so eine leichte Kutsche wenig Platz, und überhaupt sah es aus der Entfernung sicher nur so aus. War sie etwa auf dem Weg, sich den Blick bigotter und missgünstiger Matronen zu eigen zu machen? Sie erinnerte sich gut an die argwöhnischen Blicke, die ihr gefolgt waren, als Claes Herrmanns neben ihr – damals noch eine Komödiantin – ein Stück des gemeinsamen Weges durch die Stadt gegangen war. Aber eine Gouvernante war wirklich etwas anderes als eine, die mit fahrendem Volk in die Stadt gekommen war und ihre Beine und ein großzügiges Dekolleté auf der Bühne zeigte.
«Madam Rosina, Madam Rosiiii-na!» Noch bevor sie seinen Rotschopf in der Menge entdeckte, wusste sie, wem die helle Kinderstimme gehörte. Er lebte erst wenige Monate bei ihr und Magnus, und es gab Momente oder auch ganze Tage, da erschien er ihr fremd und unerreichbar. Aber meistens war er ihr vertraut und seine Gegenwart selbstverständlich, als wäre er immer in ihrer Nähe gewesen, seine Gestalt, erst recht seine Stimme würde sie immer gleich erkennen.
Tobias hüpfte ihr vergnügt entgegen, das von der Faust eines seiner älteren Mitschüler getroffene Auge sah prächtig aus (fand er), inzwischen war es wulstig geschwollen wie ein Blutwurstring und leuchtete auch in schönstem Dunkelviolett. Immerhin hatte es das schielende Auge getroffen, sodass er mit dem anderen wenigstens ordentlich geradeaus sehen konnte.
Er ertrug seine Blessur nicht nur tapfer, sondern wie eine Trophäe, einen Orden nach gewonnener Schlacht. Obwohl das nur entfernt den Tatsachen entsprach, gab es ihm doch einiges Ansehen, jedenfalls konnte ihm niemand nachsagen, er sei ein Duckmäuser. Das alles wollte Rosina gar nicht so genau wissen, das war Jungensache. Etwas anderes allerdings war, wieso er jetzt, zur Schulzeit, vergnügt wie ein Harlekin hier auf der Straße herumhüpfte.
«Er ist krank», schrie Tobias, als er nur noch drei Schritte entfernt war, und strahlte bei dieser an sich betrüblichen Auskunft über das ganze Gesicht. «Wirklich, Madam Rosina, echt krank.»
«Ich nehme an, du sprichst von deinem Lehrer.» Sie nahm ihn am Ärmel und zog ihn von der Straßenmitte an den Rand. «Ich nehme auch an, du bist dir ganz sicher, dass das nicht nur eine hübsche Vorstellung ist?»
«Ja klar! Total sicher!» Sein Gesicht verzog
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