Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
an ihre langen Reisen nach dem Norden, machte ihr Herz leicht. Sie würde nicht nach Norden reisen, sondern nach Süden. Es musste schön dort sein, ganz sicher auch wärmer.
Genau bedacht, würde sie überallhin reisen, wenn sie nur die Möglichkeit dazu bekäme. Sie hatte ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, weiter als die anderthalb Meilen an die Bille und einmal über die Elbe nach Finkenwerder war sie nie gekommen. Wanda musste dankbar sein, dass sie in einem guten Haus leben durfte, das immerhin hatte sie geschafft. Sie wurde alle Tage satt, bekam reine Kleidung, und niemand schlug sie mehr. Sie hatte gedacht, diese Unruhe, diese Sehnsucht nach der Welt dort draußen und nach einem besseren, vor allem aufregenderen Leben werde mit den Jahren vergehen. Sie war nur größer geworden.
Vielleicht würde sie ihren Entschluss eines Tages bereuen und büßen müssen, das war ihr egal. Die über das Eis und die Wälle davonziehenden Vögel mitten in der Nacht und bei dieser Kälte – das konnte nur ein gutes Omen sein. Plötzlich war ihr Kopf wieder voller Melodien, wie zuvor, als sie hinter dem Schanktisch im Theatersaal gestanden und Wein und Bier, Punsch und Branntwein ausgeschenkt, dem Orchester gelauscht und den Tanzenden zugesehen hatte. Nie zuvor hatte Wanda so wunderbare Musik gehört wie in dieser Nacht, nie zuvor eine so große vergnügte Menge in so bunten Kleidern und Masken gesehen – auch das war ein gutes Omen.
Oder nicht? Schwarze Schatten bedeuteten selten Glück. Dann würde sie eben ein Glück daraus machen.
Als kurz vor dem Ende der schmalen, Raboisen genannten Straße der Heimweg zu den Wohnungen der beiden anderen Frauen und des Mannes mit der Laterne abzweigte, blieb Wanda wieder stehen.
«Die letzten Schritte gehe ich allein», sagte sie bestimmt. Der Mann mit der Laterne wollte widersprechen, doch sie schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. Es sei zu kalt, um sich mit unnötigem Streit aufzuhalten. Er solle die anderen heimbringen. «Es sind doch nur noch ein paar Schritte», sagte sie, «Magda hustet schon den ganzen Abend, besser, ihr beeilt euch, sonst holt sie sich den Tod.»
Sie berührte flüchtig seinen Arm, nickte den beiden anderen Frauen zu und eilte davon, die Raboisen hinunter zum Holzplatz an der Binnenalster, in dessen Nähe das Haus der Paulis stand. Der Mann sah ihr nach, sah, wie sie beim Holzplatz kurz zögerte, um dann umso entschlossener weiterzueilen. Rasch hatte die Dunkelheit sie verschluckt.
Für diesen kurzen Moment ihres Zögerns hatte er geglaubt, sie werde doch bitten, sie durch die düstere Nacht bis zur Seitentür der Paulis zu begleiten. Natürlich hatte sie das nicht getan, Wanda war eine störrische Person.
Tatsächlich war sie nicht stehen geblieben, weil die Dunkelheit sie schreckte. Der Platz am Wasser lag nicht so düster wie die enge Straße, aus der sie gekommen war. Etwas anderes hatte sie verharren lassen. Etwas, das niemand außer ihr bemerkt haben konnte. Jemand hatte ihren Namen gerufen. Die Stimme hatte nicht so vertraut geklungen wie gewöhnlich, auch hatte sie nicht gedacht, er werde so bald zurück sein. Doch wer sonst sollte da flüsternd nach ihr rufen? Um diese Stunde an diesem Ort?
Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Nicht einmal genug, um zu erkennen, dass die vergnüglichen Melodien ebenso wenig Glück verheißend gewesen waren wie die schwarzen Schatten am Nachthimmel. Niemand sah, was hinter den Holzstapeln und am Ufer geschah. Nur eine junge Witwe, die ihr verweintes Gesicht an einem Spaltbreit geöffneten Fenster kühlte, glaubte ein seltsames Geräusch zu hören. Ihr Kummer war zu groß, das Geräusch ihr zu fremd, als dass sie nach seiner Ursache gesucht hätte. Es klang beinahe, als splittere Glas, dennoch – irgendwie – ganz anders. Dumpfer. Da war noch ein – Glucksen? Ja, so etwas wie ein Glucksen gewesen.
Als sie das Fenster schloss, plötzlich zitternd von der Kälte – vielleicht auch von der Einsamkeit –, glaubte sie noch einen sich rasch und verstohlen bewegenden Schatten beim Holzplatz zu sehen, die Eisblumen, die an ihrem Fenster emporkrochen, versperrten ihr die klare Sicht. Und was kümmerten sie nächtliche Schatten? Ihr Mann war tot, sie hatte andere Sorgen.
Kapitel 2
Montag, 22. März
Die Sonne stieg gerade über das Kupferdach von St. Katharinen, als die junge Madam Vinstedt die Fensterflügel ihrer Schlafkammer aufstieß und tief einatmete. Obwohl es immer noch winterkalt
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