Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Schuten und Ruderboote, selbst die kleinen wendigen Ewer und die Lustschüten für Vergnügungsfahrten auf der Alster gegen die eleganten schwarzen Gondeln auf den venezianischen Kanälen? In manchen, so hieß es, nämlich in den vornehmeren, sitze man im Schutz einer kleinen Kabine, deren Fenster durch rote Vorhänge verschlossen werden konnten. Venedig, so hieß es auch, sei voller Vergnügungen und Geheimnisse, auch voller Sünde. Überall treffe man sich Abend für Abend in großer oder kleiner Runde zum Kartenspiel, zum Trunk, zum Tanz. Und in den Theatern. Ach, die Theater. Die beste, die ernsthafteste Bühnenkunst fand zweifellos auf den Londoner Bühnen statt, Rosina war dort gewesen und voller Bewunderung. Doch nach allem, was man hörte, waren Eleganz und Witz immer noch in Venedigs Theatern zu Hause, das Kokette, auch Maliziöse. Die Opern dort, das Ballett, die Komödie …
Sie sank aufseufzend auf die Bettkante. Wie sie das Theater vermisste! Wie schrecklich sie es vermisste. Es war das erste Mal seit dem Abschied von ihrem Leben als Komödiantin, dass sie diese Sehnsucht so heftig spürte wie einen Schmerz, bohrend und süß zugleich. Süß? Weil es doch einen Weg zurück gab? So wie die Sehnsucht nach einem fernen Liebsten süß sein konnte, wenn man wusste, er werde treu und bald zurück sein?
Sie hatte sich von der Bühne, von Drama, Komödie, Singspiel, Ballett und damit auch von der Becker’schen Komödiantengesellschaft verabschiedet, um eine ehrbare Ehefrau zu werden, aus Liebe zu Magnus und aus Sehnsucht nach einem ruhigen bürgerlichen Leben. Dafür hatte sie alles verlassen, was ihr mehr als ein Jahrzehnt Heimat und Familie bedeutet hatte. Besonders Helena und Jean, Muto, der nun ein fabelhafter Akrobat war und für sie stets wie ein kleiner Bruder bleiben würde, Rudolf, Gesine, ach, und Titus, der liebe bärige Spaßmacher mit der melancholischen Seele. Seit Monaten hatte sie keine Nachricht von ihnen, keine Zeile, nicht einmal von anderen Reisenden, die ihnen unterwegs begegnet waren, ausgerichtete Grüße. In ihrer Truhe warteten drei lange Briefe, sie wusste nicht, wohin sie zu senden waren.
Rosina vermisste sie alle sehr, und oft auch das Leben, das sie mit ihnen geführt hatte. Trotzdem – das große Risiko, die Komödianten und damit ihr Leben auf der Bühne und dem Theaterkarren zu verlassen, hatte sich gelohnt. Die Entscheidung war richtig gewesen. Ganz sicher war sie das. Sie war glücklich mit Magnus, und sie mochte ihre Rolle als Ehefrau und bescheidene Bürgerin. Ihre Rolle? Es gab tatsächlich Momente, in denen sie meinte, sich selbst bei einem Spiel zuzusehen und zuzuhören. Sie wurden seltener. Dafür spürte sie nun wieder diese Unruhe, diese Wanderlust. Was nicht erstaunlich war, schließlich lebte sie seit fast einem Jahr mit einem Ehemann, der nun seinerseits mehr auf Reisen als zu Hause war, so schien es ihr jedenfalls.
Vielleicht lag es nur an dem nahenden Frühling, der machte die Menschen wie die Tiere unruhig und trieb sie, ihre schützenden «Höhlen» zu verlassen. Die meisten nur bis in die Gärten und Felder vor den Wällen, andere aber weit übers Land – zu denen hätte sie nun gerne wieder gehört.
Sie hatte mit Magnus in einem bürgerlichen Leben Liebe und Geborgenheit gefunden, Glück. Es kam einem Wunder gleich, das wusste sie sehr wohl, kaum einer Fahrenden gelang das. Und doch. Wenn die Flüsse auch noch von Eis bedeckt waren, roch ihre Nase den Frühling, erwachte wieder der Zugvogel in ihr. Denn mindestens so sehr wie Tanz, Spiel und Gesang auf der Bühne, wie all der Flitter, die Kostüme und der Spaß mit der Schminke fehlte ihr das Unterwegssein. Als habe sie sich genug ausgeruht und die Strapazen des fahrenden Lebens vergessen, selbst die Demütigungen.
Also beneidete sie ihren Ehemann vor allem um das Unterwegssein, wegen der frischen Luft und des freien Blicks in die Weite der Landschaften, der Unwägbarkeiten des Wetters und der Wege, der Ereignisse, der Begegnungen. Um der Freiheit willen, die nirgends größer war als unterwegs auf den Straßen. Eine Zeit ohne einengende Mauern, ohne Korsett und bürgerliche Konvention. Gar als Mann verkleidet, wie es für diese besonders eilige Reise am besten gewesen wäre und wie sie es früher schon getan hatte, spürte sie eine Leichtigkeit, die keineswegs nur in der größeren Bequemlichkeit der Kleidung lag.
Warum eigentlich nicht? Wie einige ihrer alten Theaterkostüme und das Kästchen mit
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