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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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und flogen auf und davon. Als sie ein Kind gewesen war, ein pummeliges ängstliches Mädchen in kratzenden blauen Kleidern, und auf dem von hohen, festen Mauern umschlossenen Hof in den Himmel hinaufträumte, hatte sie sich vorgestellt, es ihnen gleichzutun. Manchmal tat sie es auch jetzt noch. Dann fühlte sie sich wie einer dieser Vögel, kraftvoll und schwerelos immer höher aufsteigend, tief unten die Welt nur als ein fernes Bild. Das waren glückliche Momente. Berauschende kleine Fluchten aus den unsichtbaren Mauern, die nun ihr Leben bestimmten und sie festhielten.
    Stets flog sie dann über sommerliches Land und hoch genug, um die Menschen nicht mehr zu erkennen. Niemand konnte ihr etwas anhaben, nichts befehlen, nichts fordern, sie nicht beleidigen. Sie auch keiner Schuld bezichtigen oder – schlimmer noch – wortlos an eine Schuld erinnern.
    Auch nicht lieben, dachte sie im Weitergehen, aber …
    «Pass auf!» Eine feste Hand griff durch ihr wollenes Schultertuch ihren Arm, gerade rechtzeitig, als sie auf einem spiegelglatt gefrorenen Eisflecken mitten im Weg ausrutschte.
    Der Mann mit der Laterne sah sie prüfend an. «Müde?», fragte er leise.
    «Was denkst du denn?», antwortete sie knapp und entzog ihm ihren Arm. «Ich habe den ganzen Tag für Madam Pauli gearbeitet und dann die halbe Nacht Gläser gespült und Krüge geschleppt. Was wird man da? Wach?»
    «Dumme Frage», gestand er mit einem schiefen Lächeln zu und ging weiter, die Hand wieder leicht an ihrem Arm. «Steht nicht rum», rief er den beiden anderen Frauen leise zu, die in ihre Schultertücher gehüllt stehen geblieben waren, «oder wollt ihr festfrieren? Verdammt», murmelte er in die grobe Wolldecke, die er um Hals und Schultern gehängt hatte, «ich hab gedacht, mit solcher Hundekälte sei es für dieses Jahr vorbei.»
    «Du hättest das nicht tun müssen, Wanda», fuhr er nach wenigen Schritten fort.
    Sie antwortete nicht. Sie würde doch nur wieder ruppig sein, das hatte er nicht verdient. Und was gab es darauf zu sagen? Dass sie glücklich war, wenn sie ein paar Schillinge dazuverdienen konnte? Das verstand sich von selbst. Dass solche Gelegenheiten selten waren wie Schnee im Mai? Auch das wusste er so gut wie sie. Im Übrigen ging ihn nichts an, was sie tat oder nicht tat. Auch wenn er es sich vielleicht anders wünschte.
    In diesen Ballnächten am Tresen zu arbeiten war aus gutem Grund sehr begehrt, selbst bei Frauen aus den besseren Häusern, die sich sonst niemals als Schankmagd verdingt hätten. Im Karneval herrschte auch in dieser, für ihre strikte protestantische Moral bekannte Stadt ein wenig mehr Großzügigkeit, vor allem aber gab es nirgends so gute Trinkgelder wie bei den Maskenbällen im Theater. Die Bälle im Baumhaus am Hafen mochten vornehmer sein, aber wen interessierte das im Karneval? Die im großen Theatersaal beim Gänsemarkt waren ganz gewiss die turbulentesten.
    Natürlich hätte sie nicht aushelfen müssen, nachdem der Wirt festgestellt hatte, dass er für die beiden letzten, stets am besten besuchten Maskenbälle dieses Winters zu wenig Schankmägde hatte. Sie war dankbar gewesen, als Madam Pauli ihr erlaubte, einzuspringen. Auch überrascht, denn sosehr sie es sich erhofft hatte – sie brauchte dieses zusätzliche Salär ja viel dringender, als Madam sich vorstellen konnte –, so wenig hatte sie mit der Erlaubnis gerechnet. Bisher waren solche kleinen Dienste außerhalb des Pauli’schen Hauses strikt verboten gewesen, erst recht, wenn sie sich so öffentlich gestalteten wie bei diesem Anlass hinter dem Schanktisch auf einem Maskenball.
    Allerdings hatte Madam Pauli Wanda verboten, mit den Bier- und Weinkrügen in der Menge herumzulaufen und im Saal und auf den Galerien zu bedienen, das sei für ein Mitglied des Hauses Pauli nun wirklich unschicklich. Wanda hatte brav geknickst und den Ärger hinuntergeschluckt. Just darauf hatte sie gehofft, dort gab es die allerbesten Trinkgelder, und gegen unerwünschte Berührungen von Männerhänden wusste sie sich zu wehren, seit sie Röcke trug.
    Obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war, hatte sie gehorcht, alles andere wäre gegen ihre Natur gewesen. Vielleicht auch nur gegen ihre Erziehung. Es hatte sich trotzdem gelohnt, vor allem an diesem, dem letzten Ballabend. Sie tastete nach den Münzen in ihren Rocktaschen und sah sich noch einmal nach den Wildgänsen um. Die schwarzen Schatten waren verschwunden, doch der Gedanke an die Freiheit der großen Vögel,

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