Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
und auch Euer Gatte neu in der Stadt seid, keine geborenen Hamburger sozusagen, ist es angebracht, doppelt zu sorgen. Nicht dass wir Euch misstrauten, aber – andere Länder, andere Sitten, wie man so treffend sagt. Ja, und im Übrigen», hier schlich sich ein winziges saures Lächeln in Zachers bleiche Züge, «diese Kinder brauchen eine feste Hand, strenge Zucht, und wie man hört», er hüstelte und schob seine Brille ein Stück den Nasenrücken hinauf, «wie man hört, ist Euch Euer Gatte abhandengekommen. Wenn wir noch einmal sehen können, wie der Junge untergebracht ist …»
«Monsieur Zacher!» Rosina hatte sich abrupt erhoben und strich heftig ihre Röcke glatt. Sie hatte nichts anderes erwartet, und bei früheren Begegnungen war es ihr stets gelungen, Ungeduld und Heftigkeit im Zaum zu halten. Sie wusste genau, dass eine Frau, die auf der Bühne gestanden und von Ort zu Ort gezogen war, diesen Makel niemals verlieren würde, egal, wie vornehm ihre Geburt und ihre Erziehung einst gewesen waren, wie sie nun lebte, wer nun ihre Freunde waren. Wie bei anderen ähnlichen Gelegenheiten war sie bei den Begegnungen mit dem Waisenhausschreiber und den Provisoren einfach in eine Rolle geschlüpft, die für sie anstrengend war, aber ihren Zweck erfüllte. Tatsächlich war das ja nichts Besonderes. Alle Menschen spielten in verschiedenen Phasen oder Situationen ihres Lebens immer wieder Rollen. Es musste an dem bösen Traum liegen, dass es ihr an diesem Morgen nicht gelang.
«Tobias lebt seit fast fünf Monaten bei uns», erklärte sie mit entschiedener, nur mühsam beherrschter Stimme. «Monsieur Vinstedt – hier muss ich Euch korrigieren – ist mir nicht ‹abhandengekommen›, er ist auf Reisen. Seit Tobias bei uns lebt, habt Ihr viermal – oder waren es fünf? – nach dem Rechten gesehen, wie Ihr es zu bezeichnen pflegt. In der Schänke mit dem absolut unzutreffenden Namen Zum Himmel habt Ihr Euch nicht ein einziges Mal nach dem Wohlergehen des Waisenkindes erkundigt, das dort in Kost gegeben wurde. Das Mädchen arbeitet sich Tag für Tag und bis in die Nacht ihren schmalen Rücken krumm und genießt die feine Gesellschaft von groben Trunkenbolden, unter denen der Wirt selbst zu den Ärgsten gehört. Tobias geht es gut bei uns, er erfüllt seine Pflichten in unserem Haushalt, er besucht brav die Schule und die Gottesdienste, er stiehlt oder prügelt nicht und wirft keine Scheiben ein. Er hat auch niemals den Hühnerstall einer armen Witwe geöffnet, das Federvieh auf die Straße getrieben und so die alte Frau um ihre Einkünfte gebracht. Das war der Sohn eines Mitglieds der Admiralität, wie Ihr gewiss erinnert. Tobias hat nicht einmal Läuse, und davon, dessen seid versichert, hat er ganze Heerscharen mitgebracht, als er aus dem Waisenhaus zu uns kam. Was also, Monsieur, gibt es schon wieder zu prüfen oder gar zu beanstanden? Wenn Ihr uns so tief misstraut, müsst Ihr vergessen haben, wer für mich und meinen Mann gebürgt hat.»
«Monsieur Herrmanns und Madam Kjellerup», murmelte Zacher automatisch, völlig irritiert von der unerwarteten und höchst ungebührlichen Brandrede.
«Ach, du meine Güte», entfuhr es Zachers Begleiter. Er zupfte den Schreiber am Ärmel und erhob sich. Zacher rührte sich nicht, er saß wie versteinert auf seiner Stuhlkante und starrte diese zweifelhafte Madam Vinstedt an, als könne sein Blick sie durchbohren. Bis heute hatte sie sich beflissen und bescheiden gezeigt, wie es sich gehörte. Nun bewies sich, was er stets vermutet, was er gespürt hatte: alles Theater! Böse Komödie! Sie war ein respektloses, selbstgefälliges Weib, ein verlogener Charakter. Leider fielen dumme, noch halbwegs junge Herren in Seidenröcken und mit parfümierten Locken wie Hegolt auf solche Hetären-Weiber herein.
Der hatte die Dame des Hauses, von der er nur gehört hatte, dass sie eine zweifelhafte Vergangenheit habe, zuerst interessiert, dann irritiert betrachtet. Sie war nicht mehr jung, wohl bald dreißig, doch noch von schlanker, biegsamer Gestalt, das schmale Gesicht unter dem honigblond gelockten Haar trotz der langen Narbe auf der linken Seite reizend. Die vom mühsam verhaltenen Zorn blitzenden tiefblauen Augen, die eloquente Sprache, dazu die Bücher und der wertvolle Globus, das Spinett und die Notenabschriften auf dem Tisch, auf der oberen hatte er den Schriftzug von Monsieur Bach erkannt, dem weit über die Region hinaus gerühmten Kompositeur und städtischen Musikdirektor –
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