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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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ein Traum gewesen.
    Sie legte eine Hand auf ihr Herz und spürte es wie wahnsinnig schlagen. Dann fiel ihr Blick auf den Nachttisch. Das Übungsheft lag noch dort an seinem Platz. Victoria griff danach und presste es mit einem Seufzen an die Brust.
    Ein zweiter Schneeball traf die Scheibe. Sie stand auf, um nachzusehen, wer es da auf sie abgesehen hatte, wahrscheinlich irgendein Junge, der ihr einen Streich spielen wollte.
    Aber es war Raye. Sie trug einen Korb mit Mäusedorn unter dem Arm, und als sie aufhörte Victoria zuzuwinken, begann sie, die weihnachtlich mit roten Schleifen geschmückten Zweige an Passanten zu verteilen.
    Victoria trat vom Fenster zurück. »Das ist wirklich seltsam …«, murmelte sie kopfschüttelnd.
    Â»Guten Morgen!« Die Stimme ihrer Mutter, die in der Tür stand, ließ sie zusammenfahren.
    Â»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!«, erwiderte Victoria atemlos.
    Â»Da ist eine merkwürdige Person gekommen und hat nach dir gefragt. Sie wartet draußen auf dich. Wer ist denn das?«
    Â»Eine der Lehrerinnen von der Schule.«
    Die Mutter verzog das Gesicht: »Sie ist äußerst merkwürdig!«
    Victoria wandte sich erneut zum Fenster um und dachte, dass allmählich alles äußerst merkwürdig zu werden begann.

37
    Sankt Petersburg, Museum der Russischen Kunstakademie
Freitag, 31. Dezember, 10.49 Uhr
    Als Nadja aus dem Taxi stieg, schlug ihr die kalte Morgenluft ins Gesicht. Die Falcon aus Gavrils Luftflotte war absolut pünktlich auf dem Flughafen Pulkovo gelandet, und der Wagen hatte sie und Taras zügig ins Stadtzentrum gebracht. Doch einige Häuserblöcke vor ihrem Ziel hatte Nadja den Taxifahrer gebeten anzuhalten. Sie wollte zu Fuß weitergehen. Sie zahlte, stieg gemeinsam mit dem Ukrainer aus, und zusammen überquerten sie die Straße und liefen auf dem breiten Gehweg, der am Flussufer entlangführte.
    Während Nadja in Gedanken durchspielte, was sie sagen würde, und vor allem, was sie nicht sagen würde, ließ sie den Blick über die flache Steinbrüstung schweifen. Fünf Meter weiter unten schimmerte die vollkommen zugefrorene Newa im Licht einer tiefen, blassen Sonne wie ein riesiges Aluminiumband.
    Svetlana war sehr tüchtig gewesen: Bis gestern Vormittag um elf Uhr, als sie und Kirill sich getroffen hatten, um über das weitere Vorgehen zu beraten, hatte sie bereits alle notwendigen Informationen zusammengetragen und diese, wie einen Frontbericht, eine nach der anderen in einer E-Mail aufgeführt.
    Kirill, Nadja,
    ich habe herausgefunden, für welche Inszenierung der Bühnenprospekt Kirschgarten vorgesehen war. Das Stück stand ab dem 18. November 1942 auf dem Programm, kam aber nie auf die Bühne. Das Theater wurde zwei Tage zuvor bei einem Bombenangriff zerstört. Das habe ich über das Archiv der Akademie in Sankt Petersburg herausgefunden. Ausgangspunkt meiner Recherche war der Name der Bühnenbildnerin, Olga Twardowski. Zu Kriegsende wurde der Prospekt, zusammen mit anderem Bildmaterial, das die Bomben und Razzien überstanden hatte, in die Magazine der Kunstakademie der UdSSR gebracht. Anlässlich der Verlegung des Akademiesitzes von Leningrad nach Moskau wurde er 1947 rekatalogisiert. Sein künstlerischer Wert rechtfertigte jedoch nicht den Transport nach Moskau und die Ausstellung in der Morozov-Villa, dem dortigen neuen Museumssitz. So verblieb der Prospekt bis zu seinem Verkauf in dem alten Magazin in Sankt Petersburg.
    Ich habe den Verkäufer ausfindig gemacht: Benjamin Schorowsky. Er wurde 1962 in Tiflis, Georgien, geboren, studierte in Italien an der Akademie der Schönen Künste in Florenz und schloss ein Aufbaustudium in zeitgenössischer bildender Kunst am Repin-Institut an. Er kann eine glänzende Karriere als Kunstkritiker und Kurator zahlreicher internationaler Ausstellungen vorweisen. Vor sechs Jahren wurde er durch den Präsidenten der Russischen Kunstakademie, den einflussreichen Surab Zereteli, ebenfalls Georgier und außerdem ein persönlicher Freund Putins, dazu berufen, die Leitung des Akademiemuseums in Sankt Petersburg, mit Sitz in der ehemaligen Akademie, zu übernehmen, und zwar mit dem expliziten Auftrag, es wieder auf Vordermann zu bringen.
    Im Mai vor vier Jahren wurde der Bühnenprospekt im Rahmen des geplanten Verkaufs aller Werke, die nicht mehr in das Konzept der neuen Direktion passten, zusammen mit

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