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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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Professor Benjamin Schorowsky, der Museumsdirektor.«
    Â»Danke, dass Sie mich am letzten Tag des Jahres empfangen, Professor Schorowsky«, erwiderte sie förmlich.
    Das Ambiente überraschte sie ein wenig. Das Büro war ein riesiger, rechteckiger, in düsteres Licht getauchter Raum mit einer erdrückenden Decke, wie in einer Tiefgarage. Durch die breite Fensterfront im Hintergrund, die den Blick auf den Fluss freigab, fiel kaltes Morgenlicht. Rechts und links an den Wänden, die kahl und verschlissen wie alte Fabrikmauern wirkten, waren zwei geschwärzte, wie mit einem Schneidbrenner eingebrannte Schatten zu sehen: Auf der rechten Seite erkannte Nadja die aufreizende Gestalt der Venus von Botticelli; links, einer zarten Projektion gleich, die weichen Umrisse Marilyns, nach jenem berühmten Foto, auf dem sie vollkommen unbekleidet ausgestreckt auf der Seite auf einem blutroten Laken liegt.
    Zu beiden Seiten der Tür sah sie die lebensgroßen Reproduktionen zweier wie Wächter postierter Statuen: die Venus von Milo auf der einen und Canovas Drei Grazien auf der anderen Seite. In weißes Wachs gearbeitet. Doch die Gesichter waren unkenntlich, da das Wachs geschmolzen und zu Stalaktiten erstarrt war, die auf die Schultern und bis zu den Brüsten hinunterhingen, als seien sie von einer plötzlich vom Himmel herabstürzenden Hitzeglut erfasst worden. An der Decke, zwischen einem chaotischen Gewirr aus Bleirohren, waren hier und dort ein paar Strahler angebracht: allesamt erloschen und mit zerstörten Schutzgläsern, als wären sie explodiert. Auf dem Boden nur nackter Beton mit merkwürdigen, nicht zu entziffernden Graffiti.
    Nadja beschloss, den Mantel anzulassen, und zog nur die Handschuhe aus.
    Â»Setzen Sie sich, Frau Doktor Gavrilovna Derzhavin«, bat Schorowsky, als wolle er durch das ständige Wiederholen ihres Namens um irgendeine Gunst ersuchen. Er deutete auf das andere Ende des Raumes und lief voran. In dem schwachen Gegenlicht erkannte man nicht viel, aber als er innehielt und ihr ein Zeichen gab, Platz zu nehmen, war Nadja einen Moment lang sprachlos. Vor ihr standen ein bizarrer, aus drei rohen, aneinandergeschobenen Betonblöcken bestehender Schreibtisch, dazu zwei Sessel aus Latex und Vinyl, deren Form dem lebensgroßen Abbild einer nackten, sinnlich und einladend ihre Arme ausbreitenden Bettie Page mit offenem Haar entsprach. Mit anderen Worten, zwei als Sessel dienende, absolut identische Puppen, nur dass die Bettie hinter dem Schreibtisch ihren Zwilling von oben herab betrachtete, da sie auf einem etwa einen halben Meter hohen, rohen Holzpodest stand.
    Das testosteronbedingte Selbstwertgefühl des Direktors ließ nichts zu wünschen übrig, dachte Nadja. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass er ihr Staunen mit sadistischer Freude zur Kenntnis nahm, und so ging sie zum Gegenangriff über.
    Â»All das ist sehr beeindruckend, Professor Schorowsky, aber wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich jetzt auf den Grund meines Besuches zu sprechen. Wo kann ich mich setzen?«
    Der Professor kletterte auf das Podest und ließ sich in den Schoß von Bettie-1 sinken, den Nacken eingebettet zwischen den beiden großen Brüsten: »Bitte, Frau Doktor, machen Sie es sich auf dem ersten Pin-up-Girl der Menschheitsgeschichte bequem«, antwortete er, wobei er auf den Zwillingssessel deutete.
    Nadja fühlte sich befangen, aber um die Dinge nicht zu verkomplizieren, kam sie der Aufforderung nach: »Ich bin von meinem Vater beauftragt worden, einige Bühnenprospekte historisch zu dokumentieren …«
    Schorowsky zwinkerte ihr zu und unterbrach sie: »Ich weiß, dass es eine Arbeit ist, die sehr eilt: Das hat mir gestern Frau Svetlana Maskhadova verraten, als sie mich anrief, um unser Treffen zu vereinbaren, auf das ich mich dann sofort eingelassen habe. Ich bewundere Ihren Vater sehr, und ich bin aufrichtig betrübt über die Schicksalsschläge, die Sie ereilt haben … ich wollte auch einen Kranz zur Beerdigung schicken, aber ich hatte keine Gelegenheit dazu … ich war außer Landes. Eine Tragödie in der Tragödie.«
    Â»Machen Sie sich keine Gedanken. Für mich ist es so, als hätten Sie es getan.«
    Der Direktor begann zu gestikulieren, ohne den Kopf zwischen den Brüsten von Bettie-1 anzuheben. »Ihr Vater ist … ein außergewöhnlicher Mensch! Wirtschaftskapitän und Menschenfreund, Magnat

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