Die Schwingen des Todes
Kollegen haben es in der Vergangenheit mit der Verlesung der Rechte nicht immer so genau genommen.«
Decker verzog keine Miene. »Wenn Sie meinen.«
Hershfield lachte. »Sie werden sich doch sicher mit Ihren Kollegen in Verbindung setzen, oder?«
»Ich würde gern einen Blick in die Akte werfen.«
»Und Sie werden mich auf dem Laufenden halten.«
»Ich tu, was ich kann, Mr. Hershfield.«
»Aber was passiert, wenn Ihre Ermittlungen zu einem Interessenkonflikt mit Ihren familiären Verpflichtungen führen?«
»Ja, daran hab ich auch schon gedacht.«
»Und?«
»Und.« Decker warf einen Blick auf seine Uhr. »Und ich denke, es ist jetzt Zeit zu gehen.«
4
Es war noch früh am Morgen, und die beiden zuständigen Beamten saßen noch nicht an ihrem Schreibtisch. Decker hinterließ Namen und Telefonnummer bei dem Beamten am Empfang und auf dem Anrufbeantworter des Morddezernats. Wenn ihn bis neun Uhr niemand auf seinem Mobiltelefon zurückgerufen hatte, würde er einfach dort hingehen. Hannah und Rina brauchten etwas Ruhe. Jonathan fuhr sie nach Brooklyn; der Verkehr staute sich zum Glück in die andere Richtung. Als der Van den Eastern Parkway erreichte, eine der Hauptverkehrsadern in Richtung Borough Park, erschien Decker die Umgebung immer vertrauter. Es lag zehn Jahre zurück, dass er hier gewesen war, aber damals hatte er die Straßen dieses Viertels ziemlich gut kennen gelernt, weil er jemanden suchen musste.
Ein verschwundenes Kind, um genau zu sein. Wiederholte sich die Geschichte?
Möglicherweise. Was gar nicht mal schlecht wäre. Das Kind war damals lebendig wieder aufgetaucht.
Während sie die großen Hauptstraßen passierten -Zweiundvierzigste Straße, Dreiundvierzigste, Vierundvierzigste -, stellte Decker überrascht fest, wie viele Leute schon auf den Beinen waren. Gruppen bärtiger Männer, die meisten mit Brille, in schwarzen Anzügen aus dickem Wollstoff, weißen Hemden und mit schwarzen Hüten eilten die Bürgersteige entlang, wobei ihnen die Schläfenlocken, pejot genannt, auf den Schultern tanzten. Abgesehen vom Bartwuchs wirkten auch die kleinen und großen Jungen wie Miniaturausgaben der Männer. Aber auch Dutzende, in dicke Mäntel gehüllte Frauen mit Kopftüchern schoben bereits ihre Kinderwagen über die Bürgersteige, während sie gleichzeitig eine Schar um sie h erumhüpfender Kinder zu bändigen versuchten. Einige wurden von bis zu zehn Sprösslingen begleitet, wobei die älteren Töchter schon früh die Rolle einer Hilfsmutter für ihre jüngeren Geschwister übernahmen. In den Straßen wimmelte es von Schülerinnen, die riesige Schulranzen mit sich schleppten und jüdische Schuluniformen trugen: langärmlige weiße Blusen und blaue Röcke, deren Saum bis weit übers Knie reichte, darunter blickdichte Strumpfhosen und über der Uniform schwere Wollmäntel.
Da ein eisiger Wind wehte, waren die warmen Anzüge, Mäntel und Strumpfhosen nicht nur sittsam, sondern auch praktisch. Doch Decker wusste, dass sich die chassidische Kleiderordnung auch dann kaum veränderte, wenn im Sommer Temperaturen von fast vierzig Grad und eine Luftfeuchtigkeit von neunzig Prozent herrschten. Die dicken Mäntel durften dann zwar im Schrank bleiben, aber die langärmlige Kleidung klebte in der Wärme am Körper, und die Gesichter glänzten vor Schweiß. Und dennoch akzeptierten die Menschen ihr Los, erduldeten die Hitze und Schwüle und lebten mit den Unannehmlichkeiten.
Als er die Schülerinnen sah, musste Decker unwillkürlich an Shaynda denken. All diese Mädchen mit ihren Pferdeschwänzen oder den langen Zöpfen wirkten so unschuldig. Nicht eines trug Makeup oder Nagellack... selbst die älteren Teenager nicht.
Gegen welche Regeln hatte Shaynda wohl verstoßen? Hatte sie sich geschminkt oder Nagellack getragen? War sie ausgerissen und hatte sich mit Schülern anderer Schulen im Einkaufszentrum getroffen? Das alles schien so harmlos - aber das war es nicht für diese Gemeinde. Ihre Mitglieder würden einen falschen Eindruck von dem Mädchen bekommen, und die Eltern hätten es schwer, einen geeigneten schidech, einen passenden Ehepartner, für ihre Tochter zu finden.
Die Straßen waren gesäumt von Geschäften für den täglichen jüdischen Bedarf: koschere Cafes, Pizzerien und Restaurants , koschere Fleischereien und Metzger, Gemüseläden, die Waren vom Vortag günstiger anboten, ein Bekleidungsgeschäft, das mit Preisnachlässen auf scheitl - Perücken - warb. Manche Geschäfte hatten sich auf den
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