Die Schwingen des Todes
Handel mit sepharim, religiösen Werken, spezialisiert, während einige Goldschmiede kleine esoterische Silberobjekte anboten, die wie jads geformt waren -Zeigegeräte für die Thoralesung. Decker bemerkte außerdem das Studio eines sojfer, eines Schreibers. Jedes zweite Gebäude schien ein schtibl, einen kleinen Gebetsraum zu beherbergen. Möglicherweise hatte im Lauf der Jahre bei einigen Geschäften der Besitzer gewechselt, aber das Erscheinungsbild der Gegend hatte sich kaum verändert außer, dass die Bewohner des Viertels noch religiöser wirkten als zehn Jahre zuvor. Doch weshalb?
Jonathan lenkte den Van vor einem kleinen zweigeschossigen Backsteinreihenhaus an den Straßenrand - das Haus der Familie Lazarus, Rinas ehemaligen Schwiegereltern. Wie immer hätte Decker am liebsten im Wagen gewartet. Das Ehepaar Lazarus hatte ein schrecklicher Schicksalsschlag getroffen, und Decker fühlte sich in ihrer Gegenwart immer unwohl, weil er in ihnen eine schmerzliche Erinnerung an ein Ereignis wachrief, das nicht hätte passieren dürfen. Aber kaum war der Motor ausgestellt, stürzte das Ehepaar mit einem strahlenden Lächeln aus der Tür. Sie begrüßten Decker mit einer Herzlichkeit, die wieder einmal bewies, welch liebenswerte Menschen sie waren. Mit einer frischen Schürze über dem Rock umarmte und küsste Mrs. Lazarus Rina und drückte sie an ihren großen Busen, während ihr Mann, der weißbärtige Rav Lazarus, Deckers Hand ergriff und sie so kräftig schüttelte, dass man ihm seine sechsundachtzig Jahre nicht anmerkte. Dann begrüßten beide Hannah so herzlich, als wäre sie ihre leibliche Enkelin, und überhäuften sie mit Keksen und hübsch verpackten Geschenken. Das kleine Mädchen lächelte, dankte ihnen schüchtern und nannte sie Bobe und Sejde - Großmutter und Großvater.
Nachdem die Begrüßungszeremonie vorüber war, trug Decker d as Gepäck ins Haus. Das kleine Wohnzimmer war überheizt und stickig und roch nach Hühnersuppe, Braten und süßen Schokoladenplätzchen, was Decker daran erinnerte, dass er nicht gerade ein üppiges Frühstück genossen hatte, aber er konnte seinen Hunger später stillen. Er warf einen Blick auf seine Uhr und überlegte, wie er sich auf diskrete Weise verdrücken konnte. Doch Rina erriet seine Gedanken und eilte ihm zu Hilfe.
»Ich weiß, du hast zu tun. Geh ruhig. Ich werde dich entschuldigen.« »Sicher?«
»Natürlich. Jonathans Schwager wird nicht wieder lebendig und das Mädchen ist noch immer verschwunden.«
»Mach dir eine schöne Zeit«, riet Decker seiner Frau.
»Keine schlechte Idee. Bobe und Sejde kümmern sich ja gerade rührend um Hannah - sie haben ihr sogar einen Fernseher gekauft. «
»Das ist wirklich erstaunlich«, sagte Decker. »Diese Leute besitzen doch eigentlich keinen Fernseher, oder?«
»Diese Leute!« Rina verpasste ihm einen leichten Stoß mit dem Ellbogen. »Na, jedenfalls haben sie jetzt einen. Also bitte!« Sie strahlte ihn an. »Ich werde jetzt ein heißes Bad nehmen und mich mal so richtig entspannen!«
Decker lächelte. Es war schön, Rina so glücklich zu sehen. In dieser streng religiösen Umgebung schien sie immer besonders ruhig und ausgeglichen. Bisher hatte er sich selbst als denjenigen gesehen, der gab und sein Leben vollständig umgestellt hatte, um mit ihr zusammen sein zu können. Doch jetzt wurde ihm bewusst, dass auch sie viel aufgegeben hatte, um mit ihm ein Heim zu schaffen. Sittsam küsste er sie auf die Wange. »Ich möchte, dass du mir etwas versprichst.«
»Was?«
»Dass du, wenn du dich ein wenig ausgeruht hast , anschließend noch etwas mehr ausruhst.«
Ihre blauen Augen strahlten. »Das ist eine sehr gute Idee. Du bist in etwa sechs, sieben Sunden zurück, ja?«
»Ja. Schließlich beginnt heute Abend der Schabbes.« »Wie viel kannst du denn in dieser Zeit überhaupt rauskriegen?«
»Das hängt ganz davon ab. Ich habe schon Fälle innerhalb von dreißig Minuten gelöst.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Und was ist der längste Zeitraum, den du für die Lösung eines Mordfalls benötigt hast?«
Decker lachte. »Keine Ahnung. Manche Akten sind noch immer nicht geschlossen.«
Quinton war eine geteilte Stadt. Auf der einen Seite des großen öffentlichen Parks - Liberty Field - lag eine teure, ländlich anmutende Vorstadt: zweigeschossige Backsteinhäuser auf großzügigen Grundstücken mit Geländewagen und Mercedes-Limousinen in der Auffahrt. Die geschwungenen Alleen und Straßen waren gesäumt von hohen
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