Die Schwingen des Todes
oder Biologie im Allgemeinen unterrichten - Schulstoff, der im Curriculum der Schulen von Quinton zwingend vorgeschrieben ist. Und darüber hinaus...«, Jonathan stieß einen Seufzer aus, »...darüber hinaus interessieren sich die Orthodoxen überhaupt nicht für die säkulare Schulbildung, was dazu führte, dass die Leistungen ihrer Kinder die Ergebnisse der Standardtests nach unten drückten. Deswegen hat es vor einiger Zeit auch eine große Ratsversammlung gegeben, in der ein paar hässliche Worte fielen. So, da sind wir.«
Jonathan parkte den Wagen.
»Du scheinst das Ganze nicht gutzuheißen«, stellte Decker f est.
»Ich sage ja gar nicht, dass man seinen Prinzipien untreu werden soll«, erwiderte Jonathan. »Aber man muss auch nicht so einen Aufstand machen. Und wenn dann noch der Vorwurf der Unterschlagung von Geldern hinzukommt. Das wirft ein schlechtes Licht auf uns alle.«
»Keine Bevölkerungsgruppe ist perfekt.«
»Natürlich nicht. Und die große Mehrheit hier ist wirklich okay. Aber wenn man sich dazu entschließt, an die Öffentlichkeit zu gehen, dann hat man auch die Verpflichtung, ein Kiddusch Haschem zu sein.«
Kiddusch Haschem bedeutet so viel wie, für Gott ein gutes Beispiel abzugeben.
»Fertig?«, fragte Jonathan. »Klar.«
Der Rabbiner öffnete die Wagentür und stieg aus. Decker folgte ihm den gepflasterten Weg entlang, der zu einem bescheidenen, zweigeschossigen Backsteinhaus ähnlich denen in Borough Park führte. Jonathan machte sich nicht die Mühe anzuklopfen. Er öffnete die Tür und trat ein.
»Chaim?« Jonathan drehte sich zu Decker um. »Komm rein. Sie erwarten uns. Chaim?« »Yonasan?« Die Stimme kam vom oberen Stockwerk. »Ja, ich bin's. Ich hab Akiva mitgebracht.« »Ich komme gleich runter.«
Das Wohnzimmer sah geräumig aus. Aber vielleicht lag das auch nur an der spärlichen Möblierung. Vor dem Kamin stand eine kleine Sitzgruppe, eine Polstercouch mit mehreren Sesseln. Der Rest des Raums war in ein Esszimmer umgewandelt worden: ein viereckiger Tisch mit weißem Tischtuch, umgeben von zwölf Stühlen. Der Fußboden bestand aus Kalksteinfliesen, deren harte Oberfläche durch keinen Teppich gedämpft wurde. In einer Ecke befand sich ein Klavier mit Notenblättern auf dem Ständer. Decker fragte sich, ob Shaynda vielleicht Klavier spielte.
Die Wände waren in einem gebrochenen Weiß gestrichen und bis auf mehrere gerahmte Bildnisse von ergrauten, bärtigen Rabbinern vollkommen kahl. Einer von ihnen war Menachem Mendel Schneerson, der Lubawitscher Rebbe. Daneben sah Decker ein Bild von Chofetz Chaim, einem bedeutenden jüdischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Die anderen Porträts kannte er nicht. Vielleicht besaßen die Liebers ja noch andere Kunstwerke und waren nur noch nicht dazu gekommen, sie aufzuhängen. Doch Decker hatte diesbezüglich seine Zweifel.
In diesem Moment kam ein graubärtiger Mann die Treppe h erunter. Er war etwa einsfünfundsiebzig groß, schlank, weit jenseits der vierzig und trug die übliche chassidische Kleidung, allerdings keinen Hut, sondern eine große jarmulke aus schwarzem Samt. Das Haar, das darunter hervorschaute, war schütter. Als er seinem Gast die Hand reichte, spürte Decker, dass seine Handflächen von Schwielen übersät waren. Ganz offensichtlich ein Mann, der nicht den ganzen Tag herumsaß und studierte.
»Chaim Lieber.« Er ließ Deckers Hand los. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken und weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ach, ich bitte Sie.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Bitte nehmen Sie Platz, Lieutenant.«
»Akiva oder Peter.« Decker setzte sich. »Es tut mir so Leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennen lernen.«
»Ja. Aber wir sind uns schon einmal zu glücklicheren Zeiten begegnet.«
»Bei meiner Hochzeit«, erklärte Jonathan.
»O ja, natürlich.«
»Auf simchas«, murmelte Lieber. Seine haselnussbraunen Augen waren rot gerändert. Müde strich er sich über die Stirn. »Wir haben schon überall nach ihr gesucht. Also besteht keine Notwendigkeit, dass noch jemand.«
»Natürlich. Aber manchmal übersieht man in der Panik schon mal etwas.«
»Was ich brauche, ist jemanden, der mit der Polizei redet«, fiel Lieber ihm ins Wort. »Vielleicht wissen die ja etwas, das uns hilft, Shay.«, seine Stimme zitterte, »Shayndie zu finden. Wenn man herausbekommen könnte, was die Polizei weiß, wäre das schon eine große Hilfe.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
Lieber beugte sich vor. »Werden die
Weitere Kostenlose Bücher