Die Schwingen des Todes
vielleicht nur noch eine Kugel«, sagte sein Bruder, »aber das wissen die nicht. Außerdem ist das beleuchtete Fenster auf der anderen Seite.«
»Vielleicht bewacht jemand die Türen. Wenn ich das Schloss knacke, hört er mich.« Zögern. »Na ja, das lässt sich leicht rausfinden.«
Decker schob Jonathan an die Wand und stellte sich vor ihn, dann klopfte er leise an die Tür. Nichts.
Auch ein weiteres Klopfen blieb ohne Reaktion.
»Nimm die Tüten von den Schuhen, das raschelt zu sehr.« Decker tat das Gleiche, dann drückte er Jonathan die Pistole in die Hand. »Gib mir Deckung.«
»Machst du Witze?«
»Sieht nicht so aus.« Decker nahm die Kreditkarte heraus und schob sie sacht zwischen Riegel und Schnapper. Eine Sekunde später ließ sich der Türknopf ohne Widerstand drehen. »Ich hab's. Mach das Licht aus. Hoffentlich ist die Alarmanlage nicht an.«
Jonathan knipste die Taschenlampe aus. Millimeterweise begann Decker den Türknopf zu drehen. Schließlich drückte er gegen den Griff, und die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt.
Langsam. langsam. langsam.
Keine Sirene.
»Die Alarmanlage ist aus«, flüsterte Decker. »Ist das gut oder schlecht?«
»Weiß ich nicht, aber es bedeutet, das Chaim hier sein muss.« Langsam. langsam. langsam öffnete Decker die Tür. Zentimeter für Zentimeter. Ein Viertel offen, dann halb.
Als genug Platz war, um sich hindurchzuquetschen, packte Decker seinen Bruder, zog ihn hinter sich her und schloss die Tür.
Es war stockfinster. Auch nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Decker nicht viel erkennen. Das Innere war ein weiter Raum voller Riesenschatten und schwarzer Löcher. Regen lief an den hohen Fenstern herunter. Ein Blitz in der Ferne, dann ein Donnerschlag. Keiner von beiden bewegte sich oder sagte etwas. Ein paar Augenblicke vergingen, dann hörte Decker undeutliche Geräusche im Hintergrund - es konnten Stimmen sein. Schwer zu sagen bei dem Regen.
Er machte ein paar Schritte in Richtung der Geräusche. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm im selben Moment in die Nase, in dem sein Turnschuh an etwas hängen blieb und er nach vorn f iel. Er konnte sich gerade noch abfangen, ohne Lärm zu machen. Dann beugte er sich zu dem Gegenstand herab, der vor seinen Füßen lag.
Die Leiche war noch warm. Decker betrachtete das Gesicht und stellte fest, dass er es nicht kannte.
Aber alles deutete auf einen Cop: die Kleidung, der Haarschnitt, die Falten im Gesicht, die rauen Hände und Fingernägel, sogar der Bauch. Der schien zwischen vierzig und fünfzig gewesen zu sein.
»Jemand hat den Aufpasser für uns erledigt.« Decker stand auf. »Hauen wir ab.«
Jonathan nickte.
Wenn gutes Timing alles ist, war ihres katastrophal. Als Decker sich umdrehte, sah er ihn. Auch Jonathan musste ihn, nach seinem Keuchen zu urteilen, gesehen haben. Der Junge hatte Mordlust im Blick und eine Pistole in der Hand. Wahrscheinlich hatte er sie hereinkommen hören. Er grinste in der Vorfreude darauf, jemanden umbringen, menschliches Leben auslöschen zu können. Decker griff in die Tasche und stellte fest, dass Jonathan ihm den Revolver nicht zurückgegeben hatte. Die Sekunden wurden zur Ewigkeit, als der Junge die Waffe hob. Decker hatte das Gefühl, sein letztes Stündlein habe geschlagen; Jonathans Gesicht spiegelte seine eigene Angst wider. Während der Junge zielte, riss Decker seinen Bruder mit sich zu Boden, in eine Lache aus Blut.
Er wartete auf den Schuss.
Aber nichts geschah, weil der Kopf des Jungen plötzlich nach hinten gestoßen wurde. Er stürzte in Zeitlupe. Die Finger lösten sich vom Griff, die Pistole fiel aus der Hand, die Knie knickten ein, und ein kleines rundes Loch erschien auf der Stirn. Ein Schatten mit ausgebreiteten Armen tauchte auf und fing zuerst die Pistole auf, dann den Toten. Er war ganz in Schwarz und ließ die Leiche stumm zu Boden gleiten. Dann legte er einen Finger an die Lippen und streckte ihnen eine Hand entgegen, die in einem Gummihandschuh steckte. Mit einem Ruck wurde Decker hochgezogen. Das Gesicht des Mannes war schwarz geschminkt und schweißüberströmt. Sein Körper roch nach Schweiß. In der rechten Hand hielt er die erbeutete Pistole.
Nachdem auch Jonathan auf den Beinen war, machte der Schatten ihnen mit dem Zeigefinger ein Zeichen, ihm zu folgen. Er trug einen schwarzen Rucksack und ging lautlos und sicher voran, bis er zu einer halben Treppe kam. Er stieg hinauf und forderte Decker und seinen Bruder mit
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