Die Schwingen des Todes
nicht als hübsch bezeichnen.
Sie hatte eine große Nase, und ihre Wangen zeigten noch etwas Babyspeck. Aber in ihren großen, dunklen Augen blitzte ein schelmisches Lächeln. Sie trug eine langärmelige rosa Bluse und einen langen Jeansrock. Ihre Haare waren nach hinten gekämmt, vermutlich zu einem Zopf geflochten. Ihre Lippen umspielte ein kleines, geheimnisvolles Lächeln. Der Mann auf dem Foto musste um die vierzig sein und trug den typisch chassidischen schwarzen Anzug. Er hatte einen Bart, und unter dem schwarzen Hut schauten die beiden Schläfenlocken hervor. Er lächelte breit, und in seinen Augenwinkeln kräuselten sich kleine Lachfältchen. Decker zeigte Novack das Foto. »Ist das Shayndie?«
»Bei so einem kleinen Bild lässt sich das schwer sagen, aber ich glaube schon.«
»Haben Sie denn ein größeres Foto?«
»Ja, ein Foto von Shayndas Bat-Mizwa. Ich hab es gestern fotokopiert und heute Morgen in der Gegend rund um den Tatort verteilen lassen. Damit war ich gerade beschäftigt, als Sie anriefen. Shaynda trug bei der Feier ein bauschiges rosa Kleid und sah aus wie in rosa Zuckerwatte gehüllt. Sie schien wesentlich jünger als dreizehn zu sein.«
»Wahrscheinlich war sie auch erst zwölf«, entgegnete Decker. »Die orthodoxen Mädchen feiern ihre Bat-Mizwa mit zwölf Jahren, nicht mit dreizehn.«
»Ja, richtig«, bestätigte Novack.
Decker betrachtete das Foto. »Auf diesem Bild ist sie älter als zwölf, hat aber immer noch dieses unschuldige Gesicht. Himmel, was für eine furchtbare Geschichte! Darf ich das Foto behalten?«
»Das ist gegen die Vorschriften.«
»Deswegen frage ich ja.«
»Also gut, behalten Sie's.«
Decker steckte das Foto ein. Erneut sah er sich gründlich in dem Zimmer um. Am Fuß des Betts stand ein tragbarer Fernseher auf mehreren Ziegelsteinen. Novack berichtete Decker und Gindi, dass er die beiden Schachteln unter dem Bett gefunden habe - eine enthielt eine Reihe zerlesener Taschenbücher, die andere die üblichen Pornomagazine.
Decker bückte sich und roch am Bettlaken.
»Ich hab kein Sperma riechen können, falls es das ist, wonach Sie suchen«, sagte Novack. »Aber wir brauchen das Laken nicht einzutüten. Wenn wir das Mädchen finden, und sie.« - er beschrieb mit seiner Hand ein paar Kreise in der Luft - ». und sie hat Spermareste in sich, dann hab ich genügend Gewebeproben von der Leiche, um einen DNA-Test durchzuführen.«
Gindi überflog die Titel der Pornohefte. »Nichts Besonderes, sieht man mal davon ab, dass dieser Typ hier angeblich ein frommer Mann war. Aber selbst für die ist das hier noch nichts Außergewöhnliches. Die Nutten stehen doch schon direkt hinter der Brücke von Manhattan nach Williamsburg und warten nur darauf, den Chassidim die Flöte zu blasen. Okay, niemand ist perfekt. Aber diese Typen haben eine ziemlich elitäre Einstellung, und wenn man nicht einer von ihnen ist, dann zählt man nicht. Und deswegen ist es für sie auch in Ordnung, das Gesetz zu umgehen, denn alles, was sich außerhalb ihrer eigenen Gesetze abspielt, gilt für sie nicht.«
Novack hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Kaum zu glauben, dass das meine Leute sein sollen. Mein Großvater hat alles dafür gegeben, um hierher kommen zu können, und diese Schwarzröcke sind zu blind, um zu erkennen, was wahre Freiheit ist.«
»Haben Sie irgendwelche Hinweise gefunden, dass das Opfer das Mädchen missbraucht hat?«, fragte Decker.
»Bisher noch nicht«, antwortete Novack. »Keine Nacktfotos v on dem Mädchen, falls Sie das meinen.«
Decker nickte. »Irgendwelche Kameraausrüstung oder Videos?«
»Nichts.«
»Haben Sie gestern einen Blick in das Zimmer des Mädchens werfen können?«
»Nein, allerdings war ich auch gar nicht bei ihr zu Hause«, erwiderte Novack. »Ich hab auf dem Revier mit ihren Eltern gesprochen. Wie schon gesagt, will ich gar nicht behaupten, dass sie etwas zu verbergen hätten. Vielleicht fällt es ihnen einfach nur schwer, sich jemandem außerhalb ihres chewra anzuvertrauen.«
Decker wusste, dass Novack mit chewra ihren Freundeskreis meinte. »Könnte sein.«
»Deshalb ist Ihre Anwesenheit hier für mich gar nicht mal so schlecht. Wahrscheinlich können Sie an ein paar Insiderinformationen rankommen.«
»Mag sein, dass ich näher dran bin als Sie, aber ich bin alles andere als einer der ihren.« Erneut betrachtete Decker das Foto. War das einfach nur ein Onkel, der das Beste für seine Nichte wollte? Oder ein Mann, der verrückt
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