Die Schwingen des Todes
nach jungen Mädchen war. »Glauben Sie, dass er sie mal mit hierher genommen hat?«
Gindi schaltete sich ein. »Sie dürfen nicht vergessen, wo Sie hier sind, Lieutenant. Das hier ist ein sehr gläubiges Viertel. Und die Leute reden nun mal. Wie lange würde es wohl dauern, bis die Geschichte die Runde gemacht hätte, dass ein frommer Mann ein Mädchen mit in seine Wohnung nimmt - ganz zu schweigen von einem jungen Mädchen. Mal abgesehen davon, dass Unzucht mit Minderjährigen strafbar ist, ist es auch nicht zniesdik.«
Zniesdik bedeutete tugendhaft. »Vielleicht hat ja sein Bruder Wind davon bekommen.«
»Nein.« Gindi schüttelte den Kopf. »Wenn er irgendwas Illegales mit dem Mädchen angestellt hat, dann bestimmt nicht hier in seinem eigenen Viertel.«
Novack zog eine Schachtel aus einem Wandschrank. »Seht mal, was ich hier habe.«
»Mach's nicht so spannend, Mike.«
»Lauter Papierkram aus dem Laden.« Novack knallte die Schachtel auf den Boden und zog ein paar Blätter heraus. »Listen mit Artikeln, Preisen und Strichcodes, alles aus Liebers Elektronikgeschäft.«
»Ephraim war im Familienunternehmen tätig«, erklärte Decker.
»Ja, das hab ich auch gehört.« Novack blätterte durch die Unterlagen. »Ephraims alter Herr hat mir erzählt, dass sein Sohn alles machte, was so anfiel. Und wenn es mal nichts zu tun gab, hat er sich um die Inventurliste gekümmert. Und so wie es aussieht, hatte er einen ziemlich genauen Überblick darüber, was in den Läden raus- und reinging.«
Gindi klopfte mit seinem Fuß auf den Boden. »Findest du es nicht auch merkwürdig, dass sie ausgerechnet einem Mann mit Drogenproblemen die Inventurliste anvertrauen? In diesem Gewerbe fällt schon mal gern was vom Laster. Das ist wie die sprichwörtliche Möhre, die man dem Esel vor die Nase hält.«
»Du meinst: Bedien dich selbst, solange das Ganze nicht ausartet?«, fragte Novack.
»Genau.«
»Wenn sie wirklich gedacht hätten, dass er ein Risiko darstellt, hätten sie ihm dann überhaupt eine Aufgabe übertragen?«, mischte Decker sich ein. »Vielleicht sein Vater, aber der Bruder?« Er schüttelte den Kopf. »Ich wette, Chaim hat seinen Bruder mit Argusaugen beobachtet.«
»Trotzdem ist dieser Gedanke für mich noch nicht vom Tisch«, meinte Gindi.
»Hey, ich hab nur so drauflos gedacht. So mach ich das mit meinen Leuten in L.A. : Wir werfen einfach ein paar Ideen in den Raum und überlegen dann, was davon haltbar ist.«
»Hier läuft das genauso, und Sie haben gar nicht mal Unrecht.« Novack durchwühlte die Unterlagen. »Alles der gleiche Kram. Ich werd das alles eintüten und mir im Büro mal genauer ansehen, schön langsam und systematisch. Vielleicht sind ja doch ein paar Sachen darunter, die ich im Moment noch vermisse.«
»Zum Beispiel?«, fragte Gindi.
»Na, zum Beispiel ein Sparbuch. Außerdem muss der Kerl doch ein Girokonto gehabt haben.«
»Wenn er wirklich an einem dieser Zwölfstufenprogramme teilgenommen hat, wäre es gut möglich, dass er weder ein Scheckbuch noch eine Kreditkarte besaß. Möglicherweise hat er nur bar bezahlt.«
»Ja, das stimmt«, sagte Gindi. »Viele Drogenabhängige haben Finanzprobleme und lassen Schecks platzen.«
»Das würde uns die Arbeit nicht gerade erleichtern«, überlegte Novack. »Keine Spuren, die wir zurückverfolgen könnten.«
»Vielleicht hatte er ja früher eine Kreditkarte«, sagte Decker.
Novack klappte den Deckel zu und verschloss die Schachtel mit Klebeband. »Trotzdem sollten wir einen möglichen Diebstahl im Familienunternehmen nicht außer Acht lassen. Vielleicht hat Ephraim damit alte Drogenschulden bezahlt, und die möglicherweise nicht schnell genug.«
»Und was ist mit dem Mädchen?«, fragte Gindi.
Novack seufzte. »Sie ist ein echtes Problem.«
»Die armen Eltern«, sagte Gindi.
»Das arme Mädchen«, sagte Decker.
6
Der Tatort war ein schäbiges Hotelzimmer mit einer tollen Aussicht auf eine Ziegelsteinmauer, obwohl Decker davon ausging, dass der - oder die - Täter das verblasste Rollo vorher heruntergezogen hatte. Die Kreideumrisse waren noch deutlich zu sehen: Die Leiche hatte neben dem Bett gelegen. Aber da zwischen Bett und Wand nicht genügend Platz war, hatten Ephraims linker Arm und linkes Bein an der Wand gelehnt, und die Kreidestriche setzten sich auf der einst weißen, inzwischen jedoch völlig vergilbten Tapete fort. Innerhalb des Kopfumrisses befand sich ein dunkelbrauner Fleck - eine amöbenförmige Lache aus
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