Die Schwingen des Todes
winzigen Zweizimmerwohnung gelebt, in der es kaum Möbel gab. Im Wohnbereich befanden sich ein kleines abgenutztes Sofa, dessen grüner Polsterstoff verschossen war, und ein Beistelltisch mit einer Laminatoberfläche in Holzdekor, die sich bereits ablöste. Auf dem Tisch stapelten sich Zeitungen: Das ganz oben liegende Tinte-Magazin verdeckte die Titel der anderen Zeitschriften. Daneben stand ein Becher; die Kaffeepfütze am Boden war kalt. Auf dem Ablagefach unter dem Tisch erkannte Decker ein jüdisches Gebetbuch, eine jüdische Bibel und mehrere Werke von Rav Menachem Kaplan. Eines trug den Titel Die jüdische Seele, ein anderes hieß Rettung der jüdischen Seele. Gegenüber der Couch befanden sich zwei nicht zusammenpassende Sessel und zwischen ihnen eine Stehlampe.
Der Essbereich umfasste einen viereckigen Tisch, dessen rubinrote Linoleumoberfläche an eine Marmorplatte erinnerte; die Beine bestanden aus Stahlrohrgestellen. Vier dazu passende Stahlrohrstühle mit dunkelroter Kunststoffpolsterung waren um den Tisch verteilt. Bei dem Tisch handelte es sich vermutlich um ein Originalstück aus den Fünfzigerjahren, das heute wahrscheinlich mehr wert war, als es damals gekostet hatte.
Gindi durchsuchte die wenigen Küchenschränke der winzigen Kochnische. Decker sah einen Minikühlschrank und eine einzelne Kochplatte. Während der ganzen Zeit stand Jonathan in der Mitte des Wohnbereichs, die Hände tief in den Taschen vergraben und einen leidvollen Ausdruck in den Augen. Decker ging zu ihm.
»Es tut mir so Leid.«
»Das ist alles so traurig.«
»Ich weiß.«
»Er hatte sich wirklich zum Besseren verändert, Akiva. Ganz e hrlich.«
»Und diese Wohnung hier soll also eine Verbesserung gewesen sein?«
»Ja. Vor ein paar Jahren noch hat er mehr oder weniger auf der Straße gelebt.«
»Und was hat ihn gerettet?«
»Wir haben ihm Geld gegeben, genau wie sein Vater.« »Und Chaim?«
»Chaim...« Jonathan zuckte die Schultern. »Chaim hat sieben Kinder. Er kommt zwar über die Runden, aber man kann ihm kaum einen Vorwurf daraus machen, dass er auf sein Geld achtet.«
»Natürlich nicht.«
»Ephraim hat uns überschwänglich dafür gedankt, dass wir ihn nicht abgeschrieben hatten. Wir haben ihn häufig zum Essen eingeladen und versucht, so viel wie möglich zu geben. Und auch sein Vater war immer für ihn da.« Er schüttelte den Kopf. »Gott allein weiß, was in diesem Hotelzimmer passiert ist.«
»Wie ist er von seinem Drogenproblem losgekommen?«
»Keine Ahnung. Über diesen Teil seines Lebens hat er nie gesprochen.« Jonathan seufzte. »Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich ein paar Minuten an die frische Luft und hol mir einen Kaffee. Ein paar Häuser weiter hab ich ein Cafe gesehen. Das hier ist einfach zu deprimierend.«
Novack trat zu ihnen. »Sie gehen schon, Rabbi?«
»Hier gibt es nichts, was ich noch tun könnte. Im Gegenteil: Ich hab das Gefühl, dass ich nur im Wege stehe.«
»Sie sehen müde aus, Rabbi. Ich kann ja den Kerl hier herumkutschieren.« Sein Daumen wies in Deckers Richtung. »Wahrscheinlich will er auch noch den Tatort sehen, richtig?«
»Das wär sehr nützlich«, antwortete Decker.
»Warum fahren Sie also nicht nach Hause?«, wandte Novack sich wieder an Jonathan.
»Vielleicht braucht mich der Lieutenant ja noch.« Jonathans Stimme klang mutlos.
»Ich denke, Detective Novack hat Recht«, sagte Decker. »Das Einzige, was du für mich tun könntest, wäre, mich zurück nach Quinton zu fahren. Ich möchte mit Shayndas Mutter reden.« Er drehte sich zu Novack um. »Es sei denn, Sie wollen mich begleiten.«
»Ich muss heute Nachmittag noch ein paar dringende Dinge erledigen. Außerdem habe ich schon mit ihr gesprochen - mit beiden Elternteilen.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Falls Sie aber etwas herausfinden sollten.«
»Selbstverständlich. Dann werde ich Sie sofort informieren.« »Ich hab ein schlechtes Gewissen, wenn ich dich jetzt allein lasse, Akiva«, sagte Jonathan.
»Ich will ganz ehrlich sein, Jon - ich glaube, es würde manches vereinfachen.«
»Und wir fahren später sowieso in die Stadt«, fügte Novack hinzu. »Sie wissen, wo der Tatort ist? An der 134. Straße, zwischen Broadway und Amsterdam Avenue.«
»Ja, ich weiß.« Jonathan wischte sich eine Träne aus den Augen. »Nicht weit von meiner schul.«
»Wo liegt die?«
»An der 117., zwischen Morningside und St. Nicholas Avenue. Gegenüber dem Park der Columbia University.«
»Das ist nur einen
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