Die Séance
bis in den zweiten Stock, versehen mit einem schön gearbeiteten Treppengeländer und geschwungenem Handlauf.
Ana kannte sich im Haus gut aus. Sie war seit Ewigkeiten mit Christina befreundet und hatte viel Zeit hier verbracht, wenn sie aus Miami anreiste, um ihre Großeltern zu besuchen.
“Das ist wirklich ein tolles Plätzchen”, sagte Ana und ging voran.
Das Haus war wirklich wunderbar. Christina hatte es immer geliebt, und weil ihre Großmutter das wusste, auch, wie gut sie sich darum kümmern würde, hatte sie es ihr vermacht. Aber weder Mike noch Dan waren vergessen worden. Sie hatten von der Frau Treuhandfonds geerbt, die nach Amerika gekommen war, um ihre eigenes Leben zu leben, und die durch harte Arbeit, Umsicht und Schläue immer gut zurechtgekommen war.
“Okay”, sagte Ana und stellte ihre Last ab. “Jetzt brauche ich ein Bier. Auch eins?”
“Klar.”
Ana marschierte zum Kühlschrank, holte zwei eisgekühlte Flaschen heraus, und beide stießen feierlich an. “Darauf, dass du ab jetzt immer hier leben wirst”, sagte sie.
“Ich wusste immer, dass ich das eines Tages tun würde, aber ich wollte wirklich nicht, dass der Tag schon so früh eintritt”, sagte Christina zu ihr.
“Sie hatte ein gutes, langes Leben”, sagte Ana.
Ein langes Leben, aber auch ein schmerzvolles, dachte Christina. Granma hatte Granpa zu früh verloren, und dann auch noch ihre Tochter und ihren Sohn, beide viel zu jung, und deren Lebenspartner. Aber sie hatte ihre Reserven mobilisiert und war für ihre drei Enkelkinder immer da gewesen. Vielleicht war sie einfach müde gewesen. Bereit, denen zu folgen, die bereits vor ihr gegangen waren.
“Fürwahr, das hatte sie in der Tat”, sagte Christina sanft, hob die Flasche und gab dabei eine Imitation des prägnanten irischen Akzents ihrer Großmutter zum Besten.
Es klingelte wieder an der Tür. Beide eilten hin.
“Hey, wollte Jed nun eigentlich kommen?”, fragte Christina.
“Er würde gern, hat er gesagt. Aber das kann er noch nicht sein. Er meinte, er müsste sich heute Nachmittag mit einem Freund treffen, wegen irgendwas mit seinem Job, und wenn er überhaupt kommt, dann wohl erst später.”
“Wer hätte je gedacht, dass er mal ein Bestseller-Autor wird?”, sagte Christina.
“Ich hatte gehofft, er würde eine ganz große Nummer beim Football werden und mir jede Menge Dates verschaffen”, seufzte Ana.
Christina verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Komisch, sie kannte Jed fast gar nicht mehr. Damals, als sie Kinder waren, schien er für sie so eine Art Gott zu sein. Jetzt hatte sie ihn bei der Beerdigung ihrer Großmutter wiedergesehen, wo er reserviert, jedoch ganz nett gewesen war, aber sie hatte sich so verloren gefühlt, dass sie andere Menschen kaum wahrgenommen hatte. Jedenfalls hatte er sich nicht in Floskeln ergangen. Während alle anderen ihr erzählten, was für ein gutes und langes Leben ihre Großmutter gehabt hatte, sagte er einfach nur, er wüsste genau, wie sehr sie ihre Granma vermissen würde, und dass es wehtat, jemanden zu verlieren, egal wie alt er war, selbst wenn das Wissen um ein langes und gutes Leben irgendwann dabei helfen würde, die Trauer zu überwinden.
Er spricht aus Erfahrung, dachte sie, er hat seine Frau verloren, als sie gerade erst fünfundzwanzig war.
“Da seid ihr ja, ihr beiden”, sagte sie erfreut, als sie die Tür öffnete. Dan und Mike waren zusammen gekommen. Sie waren bloß ein Jahr auseinander und wurden oft für Zwillinge gehalten, so sehr ähnelten sie einander. Dan war noch zwei Zentimeter größer als die eins neunundachtzig seines älteren Bruders, aber beide hatten das tiefrote Haar, das sich weder mit Kamm noch Bürste bändigen ließ, und die warmen braunen Augen ihrer Großmutter. Christina selbst hatte blaue Augen – die Augen ihres Vaters.
“Willkommen daheim, süße Kleine”, sagte Dan, kam herein und umarmte sie.
“Klein? Sie ist fast eins achtzig und keinen Zentimeter kürzer”, meinte Michael kopfschüttelnd und folgte seinem Bruder ins Haus. Beide machten gern Witze über ihre Größe. Das hatte angefangen, als sie schon in der achten Klasse ihre gegenwärtige Körperhöhe erreichte, und nie wieder aufgehört.
“Haha, ich mag euch auch”, sagte sie und ließ sich auch von Michael umarmen. Beide waren gut aussehend, schon immer gewesen. Sie linste an ihnen vorbei zur Veranda, schaute sie dann überrascht an.
“Was, keine Freundinnen?”
“Ana hat gesagt, nur Familie”,
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