Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
Bewegungen, die Katze dreht sich in der Vertiefung zwischen ihren Schenkeln auf den Rücken und streckt ihren weißen Bauch mit den kleinen rosafarbenen Brustwarzen jenen Händen entgegen, die sie so glücklich machen. Du weißt, wie sie heißt, Dracula. Ich habe sie so genannt, weil sie einen spitzen byzantinischen Kopf hat und sich die weißen und schwarzen Flecken auf der Stirn zu einer Art Turban mit Federbusch verbinden, das erinnert mich an Vlad Țepeș. Der grüne Blick starrt jetzt gutmütig, fast liebevoll auf die Katze. Der Mann streckt die Hand aus, um sie zu streicheln, seine und Annas Hände treffen sich einen Augenblick lang wie zur Versöhnung. Weißt du, dass Kafka in der Korrespondenz mit seiner Verlobten Felice Bauer schreibt, zwischen Menschen und kleineren Tieren sei eine vollkommene Kommunikation möglich; wenn du sie auf die Höhe deiner Augen hebst, bekommen sie den Eindruck, dieselbe Größe erreichen zu können wie du und dir ebenbürtig zu sein. So machten es die Chinesen, wenn sie versuchten, ihren Grillen vor den traditionellen Kämpfen Mut zuzusprechen, sie nahmen sie aufdie Hand und redeten mit ihnen auf Augenhöhe. Wenn ich in der Küche schreibe, weil ich nebenbei noch auf eine Suppe oder einen Braten achtgebe, liegt Dracula auf dem Tisch über meine Papiere gestreckt da. Ich fühle mich dann nicht mehr allein. Sind auch die Menschen so, wenn man sie auf Augenhöhe hebt? Ich habe immer versucht, das zu tun, habe mir aber nie darüber klar werden können, ob es mir gelungen ist oder nicht.
Terry und Anna hatten sich nicht anstrengen müssen, um sich auf Augenhöhe zu begegnen. Sie waren einander ebenbürtig. Alles, was die eine wusste, wusste auch die andere, alles, was die eine las, las auch die andere. Wer sie aufmerksam beobachtete und versuchte, ihre Geheimnisse zu lüften, bekam den Eindruck, dass sie einander sogar ihre Männer streitig machten. Wir haben heimlich die Redaktion verlassen und sind ins Lokal des Kulturrats gegangen, in dem nur große Köpfe verkehrten. Gewöhnliche Menschen hatten dort keinen Zutritt, aber da sie uns täglich dort sahen, glaubten sie, wir gehörten zum Haus. Manchmal saßen wir ein, zwei Stunden vor einer Tasse Kaffee und einem Glas Wodka, und wenn wir nicht mehr über Männer sprachen, fingen wir an, über Bücher zu reden. In diesen Zeiten trug man Faulkner und Virginia Woolf, auch die Jungen Wilden waren in Mode. Ich weiß noch, sie war verrückt nach Schall und Wahn, ich nach Licht im August. Wir sprachen viel über Osborne, denn ihr gefiel immer das, was ich nicht mochte, und umgekehrt. Sogar Updike ließ uns unterschiedlicher Meinung sein. Sie war von ihrer Struktur her konservativer, wusste aber, dass sie wie ein fleißiger Schüler lernen musste, modern zu werden. Ich habees schon gesagt, sie hielt immer Schritt mit der Mode, aber es fehlte ihr die Verrücktheit, Grenzen zu übertreten. Wenn ich genau überlege, war sie braver als ich. Was uns allerdings grundsätzlich in unseren intellektuellen Möglichkeiten unterschied, war ihre ablehnende Haltung gegenüber der Philosophie und der Poesie. Sie mochte Virginia Woolf, Thomas Mann hingegen nicht. Wie kannst du dich nur durch diese Hunderte und Aberhunderte von langweiligen Seiten quälen, als würdest du die Lektionen dieses alten Schulmeisters auswendig lernen wollen. Proust schreibt auch viel, enorm viel, aber was für ein Unterschied. Wenn ich im Nachhinein über unsere Lektüre nachdenke, dann geraten meine Sätze von eben ins Wanken. Ich schien damals konservativer, aber ich mochte Boris Vian und Le Clézio, die nicht zu ihren Lieblingen zählten. Ich dachte, man könne das Porträt eines Menschen nach seiner Lieblingslektüre zeichnen, aber wie komplex, wie widersprüchlich sind doch unsere intellektuellen Launen. Ich weiß noch, dass ich bei einer unserer kleinen Eskapaden im Lokal des Kulturrats, als die Rede auf eine Kollegin kam, die mit ihrem Liebhaber ein Kind gezeugt hatte und ihren Mann hatte glauben lassen, es sei von ihm, an Iwan Karamasow dachte, der behauptete, alles sei erlaubt. Gerade hatten sie beide Der Mythos des Sisyphos gelesen, und Camus entwickelte dort die Theorie, wenn alles erlaubt sei, hieße das nicht, nichts sei verboten. Darin liege die Begründung des Absurden, es rufe nicht zum Verbrechen auf, aber tilge das schlechte Gewissen. Ich fing Feuer, ich hatte sogar einen Satz im Kopf, den ich als Motto für ein Poem benutzen wollte: »Du kannst auch aus einer
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