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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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und ich denke völlig zusammenhangslos an Rimbauds Worte »Par délicatesse j’ai perdu ma vie«. Doch im Moment ist die, die am meisten auf meine Delikatesse spekuliert, meine Mutter. Ich weiß nicht, ob ich dir erzählt habe, dass ich eine achtzigjährige Mutter habe, die ich jeden Morgen besuche, von 9 bis 15 Uhr, ich gehe ihr zu Hand, aber vor allem treiben wir Konversation. Ich weiß, dass ihr die Gespräche mit mir guttun, und, du wirst lachen, mir auch, obwohl sie die ganze Zeit jammert, sie habe vergessen, wie man redet, seit Jahren habe sie den Mund nicht mehr aufgemacht, und vor allem fehlten ihr intellektuelle Unterhaltungen. Wir sprechen für gewöhnlich über Musik, ihre Lieblingskunst, über Ballett, sie war Tänzerin, wirbeschwören die Schlachten und Könige der Weltgeschichte herauf, sie hat sehr viele historische Romane gelesen, und wir schreiten die Straßen des alten Bukarest ab, sie ist ja seit sieben Jahren nicht mehr aus dem Haus gegangen und will die Namen der Straßen und Plätze nicht vergessen, und die Nummern der Busse, die dort vorbeifuhren. Doch vor allem, jede halbe Stunde beschimpft sie Gott, dass er sie nur deshalb nicht endlich zu sich nehmen will, um sie noch etwas zu quälen, andere quäle er nicht derartig. Ihr Monolog dauert manchmal eine halbe Stunde, sogar länger, sie zählt sämtliche Bekannten auf, die vor ihrem fünfzigsten Lebensjahr gestorben sind, Kollegen von der Oper, Wissenschaftler oder Politiker, vor allem Film- und Theaterschauspieler. Sie preist sie glücklich, neidet ihnen, dass sie nicht das gleiche Schicksal ereilt hat und sie selbst sich nun in dieser jammernswerten Lage befindet. Schließlich erreicht ihr Monolog seinen Höhepunkt. Die Stimme hebt sich, wird klangvoller, hin und wieder bricht sie. Sicher, wer jung und schön stirbt, den liebt Gott eben, was soll er mit einer wie mir anfangen, ich kann grade noch mit den Armen und Beinen wackeln und mich vollstopfen, ich bin eine Kakerlake, mich braucht niemand mehr, nicht mal Gott, was soll’s, ist Gott etwa dafür zuständig, hier den Dreck wegzuräumen? Ich erstarre. Mitleid packt mich, aber ich kann ihr nicht helfen. Ich halte es aus und bin still. Verzeih mir, ich langweile dich mit meinem Privatleben. Interessantes Privatleben, was? Im Allgemeinen schätze ich es nicht, mir vor aller Welt die Wunden zu lecken. Aber manchmal beginnen sie zu eitern. Der grüne Blick heftet sich brav und sanft an ihr rechtes Ohrläppchen, wie ein Ohrring, aber der Mund vor ihrgähnt gewaltig hinter den Gitterstäben der Finger. Weißt du, diese Bekenntnisse, die sich auf allgemeine Aspekte unseres Lebens beziehen, auf Generelles und Uninteressantes, die alltäglichen Ereignisse, die den Geruch unseres Achselschweißes tragen, du wirst es nicht glauben, aber sie binden den, der sie ablegt, viel mehr an den, der sie hört. Ich wiederhole mich schon wieder. Siehst du, wie wenig ich dir zu erzählen habe, ich fürchte, ich bin entweder gänzlich fantasielos oder zensiere meine Gedanken zu streng vor dir. Sie passte jetzt den geeigneten Moment ab, um ihn zu provozieren. Nichts beunruhigt mich mehr, als die Vorstellung, ich könnte dich langweilen. Der Blick verlässt das Ohr und spaziert weiter über ihr Gesicht, läuft wie eine große grüne Fliege über heißes Fleisch. Sie kann nichts erkennen, sie hat keine Ahnung, was sich hinter dem Vorhang tut. Mitleid und Hohn können sich hinter demselben Ausdruck verbergen. Komm, ich erzähle dir, was ich gesehen habe, als es so stark regnete, als wäre die Sintflut gekommen, weißt du noch, ich fuhr mit dem 335er, war auf dem Weg zum Univers-Verlag. Unglaublich, was für lebende Metaphern uns manchmal auf der Straße begegnen, wenn man es erzählt, glaubt es einem keiner. Dort, wo der Bus von der Chişinăustraße in die Pantelimonchaussee einbiegt, tauchte auf einmal wie aus dem Nichts ein kleiner zehnjähriger Junge auf, der in einem Paar riesiger Gummistiefel durch die Pfützen ruderte, mitten auf der Straße, die ganze Stadt schien im Schlamm zu versinken, in der rechten Hand hielt er eine rosa Rose. Ich weiß noch, auch Terry hatte während unserer Studentenzeit ein Paar solcher Gummistiefel gehabt, in denen sie Elefantenfüße bekam, ich hatte es ihr nachgetan und mir genausolche gekauft. Es hatte uns ein irres Vergnügen bereitet, in die Pfützen zu springen und alles um uns herum nass zu spritzen. Damals hatten wir noch gern die Aufmerksamkeit auf uns gezogen. Terry hatte

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