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Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Die Sechzigjaehrige und der junge Mann

Titel: Die Sechzigjaehrige und der junge Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Iuga
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Gesichtern war nicht das geringste Anzeichen von Entrüstung zu erkennen, als sei alles, was dort drüben geschah, an der Tagesordnung. An einer der Stationen – ich kenne die Städte auf der Strecke Berlin-Prag nicht – stieg ein junges Paar mit weißen Stöcken in unseren Waggon. Sie waren blind. Ein blondes, sehr dünnes Mädchen mit langen Haaren, ihr Gesicht war von engelhafter Reinheit, und ein dicklicher Junge mit Bauch und beginnender Glatze, ungewöhnlich für sein Alter. Die vier sangen oder grölten eher wie Irre, als einer von ihnen aufstandund vor den Sitzen der Blinden stehen blieb. Er begann dem Mädchen, das gerade eingeschlafen war, über das Haar zu streichen; sie öffnete die Augen, und er fragte sie, wie sie heiße. Jetzt sprach er Hochdeutsch, und ich konnte ihn verstehen. Er stellte sich kurz vor und sagte, er sei aus Dänemark. In meinem Kopf schloss sich sofort ein Kontakt. Was würde der unglückliche Prinz dazu sagen? Dann wurde mir klar, sie waren doch Wikinger. Und plötzlich fragte er sie: Ihr liebt euch, oder? Die Blinden nickten. Gut, aber wie liebt ihr euch? Wie fickt ihr, wenn ihr euch nicht seht? Ich erstarrte. Bis wohin geht die Natürlichkeit? Ich hätte mir kaum etwas Ordinäreres vorstellen können. Und wenn es Naivität war?
    Wie gesagt, nachdem ich ein Jahr lang halbe Norm gearbeitet hatte, wurde ich bei Kriterion entlassen. Sie hatten mir nicht verziehen. Bei Volk und Kultur erwartete mich eine vollkommen andere Welt. Ein einfaches, bildungsfernes Umfeld, alle hatten das Abendlyzeum absolviert und waren ursprünglich Arbeiter aus Fabriken im Banat und in Transsilvanien. Schwaben und Sachsen. Die Schwaben hielten die Sachsen für eingebildet und faul, die Sachsen behaupteten, die Schwaben seien ungebildete Emporkömmlinge. Zwischen ihnen schwelte ein stummer Konflikt, wie zwischen Sepharden und galizischen Juden. Ich konnte mit ihnen nicht reden, einerseits wegen des linguistischen Handicaps – bei Kriterion waren auch Rumänen angestellt gewesen –, aber auch, weil ich keinen Gesprächsgegenstand fand. Das Einzige, was ich an ihnen schätzte, war ihre vollkommen unbeteiligte Haltung dem Leben anderer gegenüber, sie hatten zwar keine Lust, Freundschaften zu schließen, aber sie tratschten auch nicht. Anna verliert zumersten Mal den Faden. Sie wirft einen flüchtigen Blick auf die runde Uhr auf dem Bücherregal. In einer Stunde kommt die Fernsehserie Kaffee mit dem Duft einer Frau . Wenn er nicht geht, verpasse ich sie. Meine Mutter wird mir den Inhalt der Folge morgen erzählen. Der grüne Blick wartet artig wie ein Hund auf seine Salamischeibe. Diese Art, gehorsam zu sein, Beachtung zu schenken, sie noch einmal zu beflügeln, wenn bei den letzten Sonnenstrahlen, die durchs Fenster dringen, alles im Zimmer schal geworden ist, das scheint ihr unverzichtbarer als alle Serien der Welt. Wenn der Mann auf seinem Stühlchen zu ihren Füßen sitzt, ist die Distanz zwischen ihm und ihr wie dieses Schwert zwischen Tristan und Isolde, wenn sie schliefen und sie sich einredeten, ein Verbot von außen könnte die Unmöglichkeit eines inneren Verbots ersetzen. Dieser Blick hat etwas Reptilienartiges, er gleitet über die unbedeckten Partien ihres Körpers wie eine Hand, die noch im Traum damit beginnt und dich dann weckt, um Liebe zu machen. Ich fühlte immer deutlicher, wie ich stufenweise abrutschte. Ich durfte keine Gedichte mehr veröffentlichen; was ich bei der Arbeit tat, interessierte mich nicht, die Artikel direkt in deutscher Sprache zu verfassen war manchmal so qualvoll wie eine Geburt. Nur dass das Kind tot zur Welt kam. Im Grunde war es nicht bloß, dass mich meine Arbeit in intellektueller Hinsicht nicht interessierte, es war vor allem in moralischer Hinsicht entsetzlich. Ich log gegen meinen Willen, schrieb über die blühenden kulturellen Aktivitäten der Schwaben aus Darova, obwohl sie mir dort erzählt hatten, wie auf dem Feld Soldaten sie gezwungen hatten niederzuknien, wie die ansehnlichsten Häuser des Dorfes enteignet worden waren und stattdessendort Parteigenossen einzogen waren, Bürgermeister, Securisten, Lakaien aus den Stadträten, und wie die gesamte Habe der ehemaligen Besitzer zerstört worden war. Ich hasste mich damals, ich hasste meine Ohnmacht, die Tatsache, dass sie mich klein gekriegt hatten, dass ich mich diesem würdelosen Gesetz unterworfen hatte, all das ließ mich Ekel vor mir selbst empfinden, und mein einziger Vorteil war das Gift, das ich

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