Die Sechzigjaehrige und der junge Mann
bestellen kann. An diesem Nachmittag herrschte eine melancholische und triste Stimmung, ich glaube, es war Herbst. Ich weiß nicht, ob du diesen kleinen Laden kennst. In dem Durchgang, der zur alten Humanitas-Buchhandlung führt, neben dem Lädchen für Krawatten, Schals und Taschentücher. Ach, wie konnte ich das vergessen. Du hast mir damalsbei der Buchpremiere ein Taschentuch geliehen. Ich muss es dir zurückgeben, ich will es nicht behalten, ich bin abergläubisch. Sie erhebt sich schwerfällig aus dem Sessel, reibt sich kurz ihre steif gewordenen Knöchel, das passiert mir immer, wenn ich zu lange irgendwo sitze. Sie klaubt ein paar weiße Katzenhaare von ihrem Rock und geht ins Nebenzimmer. Er sitzt seit Stunden gelangweilt vor mir; nichts deutet darauf hin, dass ich ihn als Frau interessiere. Wenn er mir kein Zeichen gibt, kann ich meine Erregung nicht mehr auffrischen; wenn er nichts zu mir sagt, woran ich meine Gefühle festmachen kann, wie soll ich meinen Zustand da steigern oder wenigstens verlängern. Ich fühle, wie ich seiner langsam verlustig gehe, ich habe keinerlei Halt mehr, bin ein Mantel, den man auf einen Ständer ohne Haken hängen will. Diese fieberhafte Suche nach den Bedeutungen seiner Gesten, das mühevolle Erfinden ermutigender Fragen ermüdet sie. Für ein paar Augenblicke fühlt sie sich losgelöst von allem. Und sie altert plötzlich. Der Mann schenkt sich noch etwas Bier nach, nimmt aus einem Regal neben sich das Vatra- Magazin und beginnt, ein Poem von Alexandru Muşina zu lesen. Als sie zurückkommt, scheint er nicht gerade begeistert von seiner Lektüre. Anna reicht ihm das Taschentuch über den Tisch. Sie entschuldigt sich, sie hat es nicht gebügelt, sie hatte zu tun und hat es vergessen. Nimm es bitte so, ich will nicht, dass wir uns aus den Augen verlieren. Sie spricht die Wörter so aus, dass ihr eigentlicher Sinn betont wird, ihre wahre Bedeutung, die ihnen innewohnte, bevor sie mit dem Kalk der Konvention, der Neutralität und Adressatenlosigkeit übertüncht wurden, mit der höfliche Leute Wörter aussprechen, die gefallen.Ich denke da an Mihai, der damals, als er mir beibrachte, eine Dame zu sein, zu mir sagte, dass es in der besseren Gesellschaft nicht erwünscht sei, genau zu beschreiben, wie es einem gehe, wenn man nach seinem Befinden gefragt werde. All diese Höflichkeitsfloskeln entsprechen Verhaltensmaßregeln, die nichts mit wahren Gefühlen zu tun haben. Wahrscheinlich wurde dieses »Ich will nicht, dass wir uns aus den Augen verlieren« zum ersten Mal von Verliebten geflüstert, heute kann dieser Satz ganz automatisch dahergeredet sein, ohne dass damit etwas gemeint ist, genauso wie »Es war mir ein Vergnügen«, »Ich freue mich, Sie zu sehen« und »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«. Als dann in seinem Blick das grüne Licht zu glühen beginnt, Zeichen, dass der Weg frei ist, als seine Augen ihr eine sanfte Rüge erteilen für ihre stumme Provokation, kommt ihre Erwiderung prompt: Willst du, dass ich es als Erinnerung behalte? Was soll ich mit Erinnerungen, ich habe keine Zeit mehr, mir Erinnerungen zuzulegen.
Anna spitzt die Ohren, sie hört den Schlüssel im Schloss der Nachbartür. Es wird vier sein. Mein Nachbar ist ein richtiges Uhrwerk, er kommt immer Punkt vier nach Hause, keine Minute früher oder später, wahrscheinlich kommt er zu Fuß. Er benutzt keine öffentlichen Verkehrsmittel, damit seine Zeitordnung nicht durcheinandergerät. Der Mann sieht auf die Uhr. Er lächelt. Der grüne Blick wird horizontal, die Mundwinkel entschlossen und kraftvoll, sie krümmen sich ein wenig, werden lieblicher, ein Zeichen dafür, dass er ein leicht zu erheiternder Mensch ist, nicht unbedingt naiv, aber gutherzig, und dennoch, ihre Ahnung von gestern Abend bei der Buchpräsentation … Wie wäre es, wenn wir einen Kaffeetränken, ich trinke um dieses Uhrzeit immer einen. Anna erhebt sich aus dem Sessel, mit denselben schwerfälligen, unsicheren Bewegungen. Sie geht zum Regal, stellt sich auf die Zehenspitzen, streckt die Hand zum obersten Regalbrett. So scheint sie schlanker. Sie nimmt von dort eine alte Kaffeemühle aus Messing herunter, ein Erbstück von Großmutter, stellt sie auf den Sessel, geht in die Küche, nimmt die Metalldose aus dem Schrank, in der sie ihren Jacobs Kaffee aufbewahrt, sie bekommt ihn von Herrn Colberg aus München, der auch jetzt noch eine Gepflogenheit fortsetzt, die von damals, aus der Zeit vor der Revolution, stammt. Sie bringt die
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