Die Seele der Elben
Kristallen anvertrauen. Kein Elbe ist jemals für sein Volk verloren, auÃer es passiert ein schreckliches Unglück, bevor er zum ersten Mal zu den Bewahrern geht. Das ist ein unersetzlicher Verlust â und das ist es, was wir mit Seelentrinker bezeichnen. Etwas hat den Wiedergekehrten mehr als nur ihr Leben genommen. Es hat uns beraubt, unwiederbringlich.«
Ich konnte nichts dazu sagen, umklammerte nur mein kleines Stück Gedächtnis aus Leder und Papier mit beiden Händen und seufzte leise. Verlust. Dieser unglaubliche, unersetzliche Verlust.
»Ist diese â diese Epidemie noch einmal aufgetaucht?«, fragte ich schlieÃlich, mich auf meine Pflicht als Chronist besinnend.
Er zögerte, und ich hatte das Gefühl, dass er nicht darüber sprechen wollte. »Nicht in diesem AusmaÃ, nein«, sagte er schlieÃlich widerstrebend.
»Und die Wiedergekehrten, die nicht gestorben sind? Was geschah mit ihnen?«
Sein Unbehagen war mit den Händen zu greifen. Ich rechnete damit, dass er mich nun hinauswerfen würde, schlieÃlich hatte er lange genug meine quälende Fragerei ertragen müssen. Aber er überraschte mich, indem er nach einer Weile wieder zu sprechen begann.
»Sie waren versehrt. Die meisten an ihrem Geist und in ihrem Gemüt, einige litten körperlich, und die Bedauernswertesten unter ihnen mussten alles dies zusammen erdulden.«
»Woran litten sie?«
Er nahm sein bisher unberührtes Glas in die Hand und roch daran, dann stellte er es wieder ab. Auch der Apfel lag unversehrt in seinem SchoÃ. Anscheinend verschlug dieses Thema ihm gründlich den Appetit.
»Was meinst du? Dass sie ihre Erinnerung verloren und ihre Freude am Leben, an der Welt, an ihren Liebsten gleich mit?« Seine Stimme klang bitter. »Oder dass sie nicht mehr wussten, wie man singt oder spricht, dass sie stumm waren wie ein Stein? Oder dass sie das Rauschen der Blätter und das Murmeln des Wassers nicht mehr hören konnten und der Gesang der Vögel für sie keinen Trost mehr brachte, dass ihre Beine die Kraft verloren, sie zu tragen, dass ihre Hände nicht mehr wussten, wie man eine Blume pflückt oder jemanden liebkost?« Er biss die Zähne einen Atemzug lang so hart aufeinander, dass sie knirschten. »Und nicht genug davon«, fuhr er nach einer Weile fort, »sie wurden ab da von allen anderen gemieden. Womöglich gaben die Wiedergekehrten es weiter an andere, Gesunde! Nein, man musste sie fortschicken, damit sie irgendwo in der Ferne alleine in ihrem Elend weiterlebten und keinen anderen Elben mit ihrem Makel befleckten.«
Er griff nach seinem Glas, und ich sah, dass seine Hand ruhig war und er kein Tröpfchen des roten Weines verschüttete. Ich studierte sein Gesicht, und auch hier war kein Zeichen mehr zu entdecken, dass das Geschehene ihn in irgendeiner Form erschüttert oder sein Gemüt aufzuwühlen vermocht hatte. Nun nahm er auch noch den blankpolierten Apfel auf und biss voller Genuss hinein.
Ich schüttelte mein Erstaunen ab und verstaute mein Büchlein sorgsam in seinem Behältnis. Heute Nacht würde ich nichts mehr darin notieren, das musste bis zum morgigen Tag warten.
Bis zum Morgengrauen plauderten wir und saÃen dann lange schweigend und sinnend beisammen, bis ich mich erhob und verabschiedete. Maris nickte und schickte mir ein sanftes »Schlaf wohl, alter Freund« hinterher.
Das blieb ein freundlicher Wunsch â ich stand lange an meinem Fenster und sah zu, wie die Sonne blass und leicht verschleiert über den Dächern aufging. Der Himmel färbte sich rosa, dann zartblau, und in der Ferne lag Dunst über dem Horizont. Ich verspürte mit einem Mal heftige Sehnsucht nach der klaren Luft der Berge.
Als wäre es eine Antwort auf meine Gedanken, stob ein Schwarm Tauben unter lautem Flügelschlag vom Dach des Bibliotheksturmes auf, weil die Silhouette eines riesigen Vogels sie aufgestört hatte. Der Adler schwebte in lautlosen Kreisen auf den Bardenstein herab und landete schlieÃlich weich auf dem Sims unter meinem Fenster. Putz bröckelte und einige kleinere Mauersteine lösten sich unter dem Griff ihrer Fänge und fielen in den Hof.
»Ranvidar«, begrüÃte ich sie.
»Hallo, Kleiner«, sagte sie und begann, ihr Brustgefieder zu putzen. Ich setzte mich ins Fenster und sah ihr zu.
»Ich habe eine Nachricht für dich«, sagte sie irgendwann. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher