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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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gesehen.«
    Krin schüttelte den Kopf und erhob sich. Auch die anderen rappelten sich auf und griffen eilig wieder nach Hacke und Rechen. »Lasst uns diesen sonnigen Tag nicht von Schatten verdunkeln«, sagte er nur und wies den Flusslauf hinunter nach Norden. »Zwei Wegstunden noch, dann steht Ihr vor den Toren der Stadt.«
    Die drei verabschiedeten sich von den Bauersleuten, bestiegen wieder ihre Pferde und ritten in leichtem Trab über die Auwiesen weiter nordwärts. Bald schon schwang der Fluss in einer weiten Biegung nach Westen, und dann lag Naza-kenin vor ihnen. Die Stadt war auf einem flachen Hügel errichtet. Man konnte noch erkennen, dass der Strom einst in einem weiten Schwung westlich der Stadt vorbeigeflossen war, so dass er sie auf drei Seiten umschloss. Irgendwann jedoch hatte sich die braune Flut endgültig durch die Hänge gefressen und schoss nun in einer tiefen Rinne östlich der Stadtmauer vorbei. Die alte Flussschlinge war noch immer von sumpfigen Tümpeln durchsetzt, so dass Pferd oder Wagen abseits der Pfade sicher keinen festen Halt fanden und im Morast zu versinken drohten.
    Der ganze Hügel, mit seinen dicht aneinander geklebten Häusern und Hütten, war von einem Mauerring umgeben und von sechs Türmen bewacht. Jeweils zwei säumten die beiden Tore, die nach Ost und nach West blickten, und zwei weitere standen in der Mitte der Nord- und der Südmauer. Aus dem Gewirr von grünen und grauen Dächern ragte an der Spitze des Hügels ein großes Gebäude hervor. Es war mit silbrig glänzenden Schindeln gedeckt und hatte an jeder Giebelspitze ein schlankes, achteckiges Türmchen, an dessen Spitzen Fahnen wehten.
    Vor dem Osttor trafen die Freunde auf weitere Nazagur. Zwei Männer mit einem Ochsenkarren strebten auf das Tor zu, einige Frauen wuschen auf einer in den Fluss hineingebauten Plattform Wäsche, ein Mann und ein Knabe hüteten eine Herde Ziegen. Im Schritt ritten Céredas und Tahâma zur Straße hinüber, die sich von Süden her den Hügel herunterzog, und folgten ihr dann bis zum Stadttor. Voll Ehrfurcht ließen sie ihre Blicke über die zwei Schritt mächtige Mauer und die schweren Torflügel wandern. Eine Zugbrücke führte über den mit Moder und Schlamm gefüllten Graben, der die Stadt bis zum Fluss hinunter umgab. Von hier aus konnten sie auch erkennen, was auf den beiden Fahnen hoch oben an dem Giebeltürmchen abgebildet war. Die eine war rot und schwarz mit einem silbernen Rundturm in der Mitte, die andere zeigte ein schwarzes Schwert und einen Stab vor grünem Grund.
    Tahâma staunte. Eine Stadt wie diese hatte sie nie zuvor gesehen. In dem schönen Dorf ihrer Heimat gab es keine Verteidigungsbauwerke, nur einen schlanken Aussichtsturm mit bronzenen Glocken, die bei Sonnenauf- und -Untergang eine Melodie spielten.
    Auch Céredas besah sich kopfschüttelnd die aus großen Blöcken zusammengefügten Bauten der Nazagur. Sein Volk baute keine Steinhäuser. Die Jäger zogen im Sommer mit ihren Zelten hoch ins Gebirge und verbrachten die strengen Winter in den Blockhütten am Grund der Täler. Wurgluck dagegen verzog keine Miene, so als sei es für ihn alltäglich, eine festungsähnliche Stadt wie diese zu besuchen.
    Vor der Zugbrücke stiegen sie ab und führten ihre Pferde hinter sich her. Die Wächter starrten sie neugierig an, hielten sie aber nicht auf. Die Freunde folgten einer breiten, gepflasterten Straße den Hügel hinauf. Als sie etwa auf halber Höhe waren, teilte sich die Hauptstraße zu einem Ring, der den Hügel umschloss. Zu dieser Stunde waren viele Bewohner Naza-kenins unterwegs: Frauen mit schweren Wäschekörben, Männer mit Säcken auf den gebeugten Rücken, Fuhrleute auf hoch beladenen Karren. Sie alle sahen den Bauern, mit denen die Gefährten vor der Stadt gesprochen hatten, sehr ähnlich: die gleiche gedrungene Gestalt, gebräunte Haut und farbloses Haar. Stumm gingen sie ihrem Tagewerk nach. Selbst die wenigen Kinder, die auf der Straße zu sehen waren, wirkten seltsam ernst. Kein Lachen, kein fröhliches Lied war zu hören.
    Die drei Wanderer ließen sich eine Weile mit dem Strom treiben. Sie passierten enge Gassen zu beiden Seiten ihres Weges und überquerten Plätze, auf denen die unterschiedlichsten Waren feilgeboten wurden. Als Erstes erreichten sie den Holzmarkt, auf dem Reisig in Bündeln, Kisten voller Holzscheite, Fackeln und eiserne Schalen nebst Säcken voller Holzkohle verkauft wurden. Auf dem nächsten Platz wurde Fisch und Fleisch gehandelt, auf

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