Die Seele der Nacht
»dort findet ihr Laslow. Er kann euch weiterhelfen.«
Der junge Wächter Laslow sah Tahâma bewundernd an.
»Ja, ich habe die Blauschöpfe vor vielen Wochen gesehen. Es müssen mehr als hundert gewesen sein. Sie sind durch das Tor gegangen und auf der Straße nach Westen davongewandert.«
Tahâma verbeugte sich vor dem Wächter, der sie noch immer unverwandt anstarrte, dann strahlte sie Céredas und den Gnom an. »Wir sind ihnen auf der Spur!«
»Wohin führt die Straße?«, mischte sich Wurgluck ein und drängte sich zwischen Tahâma und den Wächter.
Laslow senkte widerwillig den Blick und musterte den Erdgnom. Dann sagte er in ehrfürchtigem Tonfall: »Sie führt nach Krizha, die Stadt des blauen Feuers. Dort leben die Glückseligen.«
»Die Glückseligen?«, wiederholte Tahâma erstaunt. »Ist die Stadt denn so schön?«
Der Wächter überlegte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, schön ist sie nicht zu nennen. Sie ist enger und noch überfüllter als Naza-kenin, und doch möchte jeder Nazagur dort leben. Der Weise schützt mit seinem blauen Feuer die Stadt.«
»Wovor schützt er seine Bürger denn?«, fragte Wurgluck.
Der Wächter zuckte zusammen und sah sich nervös um. »Warum fragst du das? Hast du nie des Nachts den eisigen Schrecken gespürt?«
»Doch, das habe ich, aber ich will endlich wissen, was hinter diesem nächtlichen Aufruhr steckt.«
Laslow schüttelte sich. »Dann bist du entweder tollkühn oder verrückt. Alle, die den Schatten mit eigenen Augen gesehen haben, sind tot.«
»Und der Weise der Stadt ist stärker als der Schrecken?«, mischte sich Céredas ein.
Der Wächter nickte. »Ja, Krizha ist der einzige sichere Ort in unserem Land. Jeder träumt davon, dort zu leben.« Er seufzte.
»Was hindert die Leute, dorthin zu gehen?«, fragte das Mädchen.
Der Wächter hob die Hände. »Die Stadt ist klein, der Raum hinter ihren Mauern begrenzt. Es ist nahezu unmöglich, vom Weisen der Stadt das Bürgerrecht zu erlangen. Er achtet streng darauf, dass kein Strom aus Flüchtlingen seine Stadt erstickt.«
»Was gibt dem Weisen seine einzigartige Macht?«, wollte Wurgluck wissen.
»Das weiß ich nicht«, sagte der Wächter. »Ich habe ihn nie gesehen, aber man erzählt sich, dass er keiner von uns ist. Es muss schon viele Dutzend Jahre her sein, dass er zu uns kam und uns das blaue Feuer brachte.«
»Wie weit ist es bis nach Krizha?«
»Mit ein paar guten Pferden könnt ihr die Stadt noch vor der Nacht erreichen.«
»Dann sollten wir aufbrechen!«, sagte Céredas und verließ die Schenke.
Tahâma und Wurgluck dankten dem Wächter für seine Auskünfte und traten mit dem Jäger auf die Gasse hinaus. Kurz darauf ritten sie durch das Tor und folgten der ausgefahrenen Straße. Rechts, an den steilen Hang eines Hügels gepresst, sahen sie ein kleines Gehöft. Es war von hohen Palisaden umgeben. Direkt vor dem Zaun, im Abstand von nur wenigen Schritten, bemerkten sie Steinkreise mit verbrannter Erde und Asche. Bald darauf tauchte am anderen Flussufer ein weiteres Haus auf. Es war klein und gedrungen, die Fenster kaum mehr als schmale Schießscharten. Auch hier ragte ein lückenloser Zaun auf, und geschwärzte Stämme in eisernen Körben sprachen von nächtlichen Feuern.
»Feuer und Licht«, murmelte der Erdgnom vor sich hin.
Kurz vor Mittag tauchte ein prächtiges Anwesen auf einem Hügel in der Flussaue auf. Das Haus schimmerte weiß in der Sonne, sein Dach war wie von Silber. Große Fenster zeigten nach Süden zum Fluss hinunter. Blühende Büsche säumten die Zufahrt, doch nirgends waren Zäune oder Feuerstellen zu sehen.
»Vielleicht ist es verlassen«, sagte Céredas.
Da trat eine dunkelhaarige Frau in einem langen Gewand aus der Tür. Sie setzte sich auf die Bank im Schatten der Veranda, zog eine Flöte hervor und begann zu spielen.
»Oder das Glück war bisher auf ihrer Seite«, gab Tahâma zurück.
»Was sind das für Leute, die angesichts der nächtlichen Gefahr weiter hier draußen wohnen wollen«, wunderte sich der Erdgnom, »und dann noch nicht einmal etwas zu ihrem Schutz unternehmen?«
»Ja, das ist seltsam«, stimmte ihm Tahâma zu. Sie dachte an die Worte der Tashan Gonar, die das Mädchen ihr berichtet hatte. Würde sie selbst in solch einer engen Stadt leben können? Ohne Schönheit und ohne Farben, ohne den Duft von Blüten und den Klang des Windes? Würde in solch einer Umgebung vielleicht sogar die reine Musik stumpf und trüb? Hier draußen
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