Die Seele der Nacht
die Sonne im Westen. Tahâma trieb ihre Stute immer schneller an, Céredas folgte ihr. Der Weg war nun wieder besser, so dass die Hufe Halt fanden. Schnell sank die Dämmerung herab, und ein kalter Wind strich über das Plateau. Rubus erhob sich über dem Horizont und tauchte die mit Heidekraut bewachsenen Kuppen in sein rötliches Licht. In ermüdender Eintönigkeit zog sich ihr Weg dahin.
Sie erreichten die Hangkante des Tales so unvermittelt, dass sie überrascht ihre Pferde zügelten. Inzwischen war auch der silberne Arawin aufgegangen. Sein Licht umschmeichelte ein schmales, bewaldetes Tal, in dessen Grund ein Bach seine Schleifen zog. Auch die Straße konnten sie als helles Band erkennen, wie sie aus dem düsteren Wald trat, die Bachaue durchquerte und dann auf eine Steinbrücke zustrebte. Auf der anderen Seite traten die felsigen Talwände zurück und umschlossen einen weiten Kessel. Dort lag Krizha, zum Tal hin von einer doppelten Mauer geschützt, nach Süd und West von steilen Felswänden umgeben. Sie sahen warmen Feuerschein hinter so manchem Pergamentfenster glühen, doch das waren nicht die einzigen Lichter der Nacht.
»Das blaue Feuer«, rief Tahâma aus. Gebannt sah sie zu der fernen Stadt hinunter. Ein Band blauen Lichts zog sich zwischen den beiden Stadtmauerringen und am Fuß der Felsen entlang, so dass die aufragenden Wände hell erleuchtet wurden. Es schimmerte und waberte wie Nebel und schien eher kalt denn aus Feuer, und doch war es Tahâma, als züngelten immer wieder blaue Flammen in die Nacht empor. Was für ein Anblick!
»Wir müssen weiter«, drängte Wurgluck. »Wir sollten uns beeilen, die bewaldeten Hänge hinter uns zu bringen. Wer weiß, was zwischen diesen Bäumen so alles haust.«
Wie um seine Befürchtungen zu bestätigen, durchbrach ein lang gezogenes Heulen die Stille der Nacht. Es war zu tief und grollend, um von einem normalen Wolf zu stammen. Eine dunkle Wolke schob sich vor Arawin. Tahâma verspürte einen kalten Schauder. Sie drückte ihrer Stute die Fersen in die Flanken und sprengte den abschüssigen Weg hinab. Ceredas sah ihr einen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen nach, dann folgte er ihr.
Bald schon mussten sie ihre Pferde wieder zügeln. Dicke Äste hingen über dem Weg und warfen ihre Schatten, so dass sie die Straße kaum mehr erkennen konnten. Tahâma zog den Stab aus ihrem Bündel. Der Kristall leuchtete auf. Kein Lüftchen rührte sich. Den Wind hatten sie auf der Hochebene zurückgelassen, und dennoch raschelte es über ihren Köpfen, und die Zweige schwangen hin und her. Seltsame Geräusche drangen an ihre Ohren. Lichter blitzten paarweise im Unterholz auf und verschwanden wieder. Gelbe und grüne Augen bewegten sich über dem Boden. Ein Tier mit weiten, ledernen Schwingen strich knapp über ihre Köpfe hinweg und stieß einen klagenden Laut aus. Tahâma begann leise zu singen. Die Töne lösten die kalte Angst, die sie umklammerte, und ließ ihren Atem ruhiger werden.
»Sei still«, knurrte Céredas und sah aufmerksam in die Finsternis. »Der Wald lebt!«
»Ja«, hauchte Tahâma, »es ist, als würden die Bäume miteinander flüstern und ihre Äste drohend um uns herum verschränken.«
»Es sind nicht die Bäume«, murmelte Wurgluck. »So viele Augen in der Nacht!«
Tahâma fixierte drei rote Lichtpunkt-Paare, die sie im Unterholz begleiteten. »Ich spüre Hass und wilde Gier«, raunte sie. Die Blicke in ihrem Rücken schmerzten wie eisige Nadelstiche. Auch ohne sich umzudrehen, war sie sicher, dass ihnen auf der Straße weitere Wesen mit roten Augen folgten. »Warum greifen sie nicht an?«, fragte Tahâma und umklammerte ihren Stab, der nun nur noch leicht glühte. Sie wagte nicht noch einmal zu singen, obwohl eine innere Stimme sie dazu drängte.
Wurgluck zuckte mit den Schultern. »Vielleicht lieben sie das Katz-und-Maus-Spiel und laben sich an der Furcht ihrer Opfer.«
Tahâmas linke Hand krallte sich in die üppige schwarze Mähne ihrer Stute.
Céredas ritt an ihre Seite. Sein Gesicht zuckte, sein Blick huschte unstet umher. »Sie kreisen uns ein«, flüsterte er und löste die Axt von seinem Gürtel.
Tahâma nickte. Ihre Sinne waren weit geöffnet, die Muskeln fast krampfhaft gespannt, und dennoch fuhr sie erschreckt zusammen, als der erste Schrei zu ihrer Rechten erklang: kalt und grausam, wie keine lebende Kreatur hätte schreien können. Die Schatten zu ihrer Linken und hinter ihnen nahmen den Schrei auf, dass er in ihren Ohren
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