Die Seele der Nacht
Kopf.
Tahâma musterte sie neugierig. Aylana war noch größer als Céredas und doch schlanker als selbst die Blauschopfmädchen. Das blauschwarze Haar fiel ihr bis über die Hüften. Auch ihre Wimpern waren tiefschwarz, Gesicht und Hände dagegen von durchscheinendem Weiß. Sie trug ein langes Gewand aus nachtblauer Seide, das an beiden Seiten bis weit über die Knie geschlitzt war. Dazwischen ahnte man ihre Beine, die bis über die Waden in Stiefeln aus weichem Leder steckten.
Draußen erscholl ein schrecklicher Schrei. Sie waren nah! Sehr nah!
Céredas lief zum Fenster, zog den Rahmen mit dem gespannten Pergament ein Stück auf und sah hinaus. »Ich sehe sie. Geduckte Schatten umschleichen dein Haus.«
Aylana nickte und trat an den Herd. »Vor der Morgendämmerung werden sie verschwunden sein. Habt keine Angst.«
»Ich habe keine Angst«, stieß Céredas hervor.
Aylana lächelte. »Ich wollte nicht an deinem Mut zweifeln, Jäger aus dem fernen Felsengebirge. Selbst der Mutigste sollte sich vor dem Schattenlord fürchten.«
»Aber du fürchtest ihn nicht«, sagte Tahâma und sah ihr zu, wie sie ein duftendes Mus in drei Schalen schöpfte.
»Das ist wahr«, antwortete Aylana. »Furcht ist mir fremd, dennoch würde ich nie seine Macht und Grausamkeit unterschätzen. Aber gerade weil ich weder Angst noch tödlichen Schrecken spüren kann, wird er sich zurückziehen, um seine Gier an einem anderen Ort zu stillen. Seinen Hunger und den seines Heers dunkler Kreaturen.«
»Aber ich verstehe das nicht.« Tahâma schüttelte irritiert den Kopf. »Warum kannst du dich nicht fürchten?«
Für einen Moment hob Aylana ihre Lider. Das Mädchen zuckte zurück. Keine trüben Augen oder leeren Höhlen verbargen sich unter den Wimpern. Es waren glatte, spiegelnd schwarze Steine.
»Manche gute und manche schlechte Eigenschaft wird uns in die Wiege gelegt. Manche Begabung oder mancher Mangel. Können wir ergründen, warum? Wissen wir, wohin uns unsere Bestimmung führt?«
Sie stellte die Schalen auf den Tisch und holte Löffel und tönerne Becher, die sie mit einem goldgelben, dampfenden Getränk füllte. Einladend wies sie auf die Holzbank und ließ sich dann auf einem Hocker nieder. Tahâma setzte sich und griff nach dem Löffel. Das Mus schmeckte süß und doch kräftig und war seltsam erfrischend.
»Wir haben auf unserem Ritt einen Freund verloren«, mischte sich nun Céredas ein, dessen Schale bereits geleert war.
Aylana füllte sie ein zweites Mal und schob sie dem Jäger hin. »Was für ein Wesen ist euer Freund?«, fragte sie.
»Ein Erdgnom, ein kleiner Kerl, kaum zwei Fuß hoch.«
Aylana wiegte den Kopf hin und her. »Nicht immer wohnen große Gefühle nur in großen Leuten, dennoch könnt ihr zuversichtlich sein, dass sich die Wesen des Lords nicht an eurem Freund vergriffen haben.«
»Willst du uns von ihm erzählen?«, bat Tahâma. »Alle, die wir bisher fragten, wandten sich in Schrecken ab.«
Aylana hob ihren Becher und trank einen Schluck. Sie lehnte ihre Wange an den gewärmten Ton. »Schon zu Zeiten meiner Großmutter lebte Lord Krol von Tarî-Grôth in Nazagur, aber damals war er noch nicht mit dem zu vergleichen, der er heute ist. Ich kann nicht genau sagen, wann es anfing. Es begann langsam und entwickelte sich kaum merklich fort. Die meisten nahmen wohl keine Notiz davon. Schließlich gibt es auch andere Wesen, die nachts in den Wäldern lauern. Aber seit meiner Kindheit wurde er mehr und mehr zu einer Bedrohung, die das ganze Leben in Nazagur zu lähmen begann. Er erstickt das Land.«
»Die Toten, die wir fanden, wiesen keine Verletzung auf, aber ihre Körper ähnelten jahrhundertealten Mumien. Hat der Lord sie getötet? Was tut er ihnen an?«, fragte der Jäger.
»Ja, er tötet, Nacht für Nacht. Manche sagen, es sei sein Blick, andere behaupten, die Opfer stürben vor Angst. Ich weiß nicht, was mit ihnen passiert. Eines aber ist sicher, nur selten überlebt ein Nazagur die Begegnung mit dem Lord.«
Lange saßen sie da und schwiegen. Schließlich erhob sich Aylana und richtete den beiden eine Bettstatt. Sie kümmerte sich noch einmal um die Pferde, dann legte sie sich in ihrem Bett, das hinter einem Vorhang verborgen war, zur Ruhe.
Eine Weile regte sich nichts in der kleinen Hütte auf dem Hügel. Céredas lag mit offenen Augen da und lauschte den Atemzügen der beiden Frauen. Sie schienen fest zu schlafen. Leise erhob er sich, trat zum Fenster und sah hinaus in die Nacht. Draußen
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