Die Seele der Nacht
ihnen auf den Fersen?
»Wo ist Wurgluck?«, rief ihr Céredas ins Ohr.
»Ich weiß es nicht.« Sie duckten sich unter den Ästen hinweg. »Er ist heruntergefallen, und ich hoffte, du hättest ihn aufgelesen.« Tahâma seufzte schwer. »Was mag ihm nur zugestoßen sein? Die wilden Tiere werden ihn zerreißen.« Tränen traten in ihre Augen.
Céredas tätschelte unbeholfen ihre Hand. »Er ist nicht so hilflos, wie du denkst. Sicher hat er sich irgendwo vor diesen Bestien verkrochen. Solange es Nacht ist und sie auf unserer Spur sind, können wir nichts für ihn tun.«
Tahâma antwortete nicht. Sie wusste, dass er Recht hatte, aber sie wollte ihm nicht zustimmen. So ritten sie dahin. Hinter ihnen war immer wieder das Heulen der Verfolger zu hören, aber nicht nah genug, als dass diese für die beiden Reiter sichtbar gewesen wären. Plötzlich erscholl von rechts her ein Wiehern. Ein silbernes, schlankes Pferd kam auf sie zu. Auf seinem Rücken trug es eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar.
Mühelos setzte sie sich an die Seite der Fliehenden. »Folgt mir«, rief sie mit dunkler Stimme. »Folgt mir nach!« Und schon jagte sie wieder auf die Bäume zu, zwischen denen sie eben aufgetaucht war.
Tahâma überlegte nicht lange. Sie heftete sich der Fremden an die Fersen. Bald ritten sie über eine Lichtung auf den Talhang zu, dann jedoch bog sie nach links ab und jagte einen kleinen Hügel hinauf, von dem her ihnen ein warmes Licht entgegenschien. Als sie näher kamen, erkannte das Mädchen ein kleines Holzhaus, das von den tief hängenden Zweigen einer Eiche fast verborgen wurde. Durch das einzige Fenster auf dieser Seite schimmerte das Licht einer Lampe. Tahâma folgte der Frau auf die Rückseite des Hauses, zu einem niedrigen Stall. Dort hielt die Fremde an und sprang leichtfüßig vom Pferd. Tahâma und Céredas folgten ihrem Beispiel.
»Tote Reiter auf wilden Bestien sind hinter uns her«, keuchte Tahâma.
Die Frau nickte. »Ich weiß«, antwortete sie ruhig. »Und der Lord selbst ist bei ihnen, aber sie werden nicht hierher kommen.« Die Fremde hatte den Kopf abgewendet, sodass Tahâma nur ihr schwarzes Haar sehen konnte.
Wieder ertönte das Heulen. Es schien sich zu nähern. Bewegte sich dort nicht etwas am Fuß des Hügels?
»Kommt mit«, sagte die Frau und führte ihr Pferd und Tahâmas Stute in den Stall. Die beiden traten hinter ihr ein und schlossen die Tür. Das silberne Fell des wundervollen Tieres schimmerte in der Dunkelheit. Ohne Licht zu machen, band die Fremde ihr Pferd an, rieb das Fell trocken und füllte seine Krippe. Tahâma ließ ihren Stab leuchten. Erstaunt sah sie Céredas’ schwarzen Hengst friedlich kauend an einer Futterkrippe stehen.
»Er kam vor Angst zitternd hierher, daher ritt ich los, um nach seinem verlorenen Reiter Ausschau zu halten«, sagte die Frau und öffnete eine schmale Tür in der Rückwand des Stalls. Sie wandte sich um, verbeugte sich leicht und deutete einladend in den freundlich erleuchteten Raum, der dahinter zum Vorschein kam. Erstaunt sah Tahâma, dass die Augen der Fremden geschlossen waren. »Mein Name ist Aylana, und dies ist mein Heim. Bitte tretet ein, um euch von dem Schrecken der Nacht zu erholen. Hier werdet ihr ruhigen Schlaf finden.«
Die beiden Gäste verbeugten sich ebenfalls, nannten ihre Namen und folgten Aylana in die Hütte.
»Darf ich euch ansehen?«, fragte sie und trat auf Tahâma zu. Sie hob ihre Hände und strich ihr ganz sanft mit den Fingerkuppen über Haar und Gesicht. Dann glitten ihre Finger über den Hals, die Schultern und Arme, bis sie in Tahâmas Handflächen zur Ruhe kamen. »Du bist nicht von hier! Woher kommst du? Bist du ein Blauschopf?«
»Ja, aber wie ... ich meine ... du bist blind?«, stotterte das Mädchen. »Lebst du hier allein? Wie konntest du uns da draußen finden? Wie kannst du auf einem Pferd übers Land reiten?«
Aylana lachte. »Ja, ich bin blind, schon seit meiner Geburt, aber ich bin es gewöhnt, allein zu leben. Hier drinnen finde ich mich allein zurecht, und draußen habe ich Glyowind. Die Stute ist halb Pferd, halb Einhorn und sieht für mich, besser als jedes andere Wesen es in diesem Land könnte.«
Sie trat zu Céredas und legte ihre Fingerspitzen an seine Wangen. Der Jäger hob abwehrend die Hände, sagte aber nichts.
Aylana jedoch musste es gespürt haben, denn sie trat einen Schritt zurück. »Und aus welchem Land kommst du, stolzer Fremder?«, fragte sie und lauschte mit schief gelegtem
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