Die Seele der Nacht
sie zu ersticken drohte. Wie konnte sie es wagen, einen solchen Gegner herauszufordern? Das Licht des Kristalls wurde schwächer, bis nur noch ein schwaches Glühen blieb.
»Mit diesem Spielzeug willst du gegen mich antreten?«, fragte der Lord. »Dummes Ding. Hat dir niemand gesagt, wer ich bin?«
»Ihr seid Lord Krol von Tarî-Grôth«, antwortete Tahâma und fürchtete, dass ihre zitternden Beine gleich unter ihr nachgeben würden.
»Lass dich nicht einschüchtern«, hörte sie Wurgluck dicht hinter sich.
Sie dachte an ihren Vater und umklammerte den blauen Stein. »Geht! Geht zurück zu Euren Schatten!«, rief sie mit einer Stimme, deren Festigkeit sie selbst erstaunte. Hatte der Vater Recht? Konnte Krísodul ihr tatsächlich Mut und Kraft verleihen?
Langsam glitt der Lord heran. Die knöchernen Finger näherten sich ihrem Gesicht und zogen eine Bahn des Todes über ihre Wange. Sie wusste nicht, ob es ein Feuer war, das sie verzehrte, oder ob sie in Kälte erstarrte. Die panische Angst wollte sie verschlingen. Er saugte an ihrem Leben.
»Du gefällst mir, mein Kind. Du bist nicht wie diese trüben Bauern, die kaum den Hunger einer Nacht befriedigen. Sie nähren mich, doch sie sind es nicht wert, dass man sich auch nur eine Stunde lang an sie erinnert. So folgt eine Nacht der anderen, eintönig, eine Ewigkeit lang.« Er hielt inne und schien seinen Worten nachzusinnen. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Tahâma. »Komm mit nach Tarî-Grôth«, sagte er. »Dir könnte es gelingen, meine Langeweile für Augenblicke zu durchbrechen. Ich will mich an dir stärken und dich in die Schar meiner Schatten aufnehmen.«
Tahâmas Blick wurde trüb, der Stab sank herab und fiel klappernd zu Boden. Langsam, ganz langsam hob sie die Hand, um sie in die Klaue zu legen, die er ihr entgegenstreckte.
»Nein!«, kreischte Wurgluck, aber der Schattenlord achtete nicht mehr auf ihn, als wenn er eine Ratte gewesen wäre, die seinen Weg kreuzte.
Da flog abermals die Tür auf. Grelle Töne und ein blauer Schein durchfluteten den Raum. »Ihr habt hier nichts zu suchen!«, donnerte eine Stimme, Die klauenbewehrte Hand sank herab, der Schattenlord wankte an die Wand zurück. »Was wollt Ihr hier?«, fuhr die dröhnende Stimme fort. »Hier gibt es nichts für Eure Gier und auch nichts für Eure grausamen Schatten. Geht! Sonst wird Krísodul Euch vernichten!«
Die Lippen des Lords öffneten sich. Er lachte, dass sein Umhang wallte. Sein Lachen war furchtbarer noch als seine Drohungen. »Ihr mich vernichten, alter Mann? Von welchen phantastischen Träumen werdet Ihr sonst noch heimgesucht? Glaubt Ihr wirklich, Euer blauer Hokuspokus könnte mich aufhalten?«
»Ja, das glaube ich«, sagte der alte Mann schlicht. »Die Schattenwesen fliehen vor dem blauen Feuer, denn es ist aus hellem Tag gemacht, der die Nacht vertreibt. Geht!« Er streckte den Stab mit dem blauen Kristall vor.
Noch einmal lachte Krol von Tarî-Grôth, dann begannen seine Konturen zu fließen, bis nur noch ein silberner Wirbel übrig blieb. Mit einem letzten eisigen Hauch floss der Nebel durch das geöffnete Fenster hinaus in die Nacht.
Kapitel 8
Der Weise von Krizha
Der Weise von Krizha hob seinen Stab und beschrieb einen kleinen Kreis damit. Das blaue Leuchten des Kristalls verblasste. Langsam kehrte Leben in die Gesellschaft zurück. Zwei Männer zündeten die erloschenen Fackeln wieder an. Einige Gäste begannen sich flüsternd zu unterhalten, andere sanken auf ihre Stühle, die Gesichter noch immer bleich vor Schreck. Der ganz in Weiß gekleidete alte Mann beugte sich zu der Braut hinunter, die reglos am Boden lag. Er nahm ihre Hand und summte eine Melodie, bis sie die Augen aufschlug und sich ängstlich umsah. Der Weise half ihr beim Aufstehen. Zitternd stand sie da, den Blick gesenkt. »Kriknov«, sagte er streng, »bring deine Braut nach Hause. Sie hat keinen dauerhaften Schaden davongetragen und wird sich bald erholen.« Nur mühsam befreite sich der Bräutigam aus seiner Erstarrung. Er zog einen Umhang von seinem Stuhl und trat zu seiner Braut, die ihn aus weit aufgerissenen Augen stumm anstarrte. »Tajina«, flüsterte er, hüllte den weiten Mantel um ihre Schultern und legte den Arm um ihre Taille. »Komm, Liebes.« Noch immer waren ihre Gesichtszüge maskenhaft starr, aber sie legte den Kopf an die Schulter ihres Gatten und ließ sich hinausführen. Die Hochzeitsgäste sahen ihnen mit starren Mienen hinterher.
»Und ihr anderen geht nun auch
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