Die Seele der Nacht
in eure Häuser zurück«, befahl der Weise von Krizha. »Heute Nacht wird nichts mehr passieren. Ich werde über euch wachen.«
Einer nach dem anderen erhob sich, warf seinen Umhang über und verließ mit traumwandlerischem Schritt das Gästehaus. Ehrerbietig senkten sie die Häupter, wenn sie an dem alten Mann vorbeikamen, der hoch aufgerichtet neben der Tür stand, in der Hand den langen Stab mit dem nun unscheinbaren Kristall an der Spitze.
»Tahâma!« Sie wusste nicht, zum wievielten Mal Wurgluck ihren Namen flüsterte. Er zerrte an ihrer Tunika, die jede Farbe verloren zu haben schien.
»Wo ist Céredas?«, murmelte sie undeutlich. Ihre Lippen schienen wie eingefroren.
»Ich weiß es nicht. Er ist nicht zurückgekommen.« Besorgt runzelte der Erdgnom die Stirn.
Lonathâ trat heran und legte Tahâma den Arm um die Schulter. »Ist mit dir alles in Ordnung? Du solltest dich ausruhen. Dein Haar und dein Kleid sind ganz grau geworden!«
Tahâma sah an sich herab. Grau? Das war übertrieben, aber der Glanz in ihren blauen Flechten war verblasst. Ihr Haar wirkte müde und stumpf. Energisch schüttelte sie dennoch den Kopf. »Ich muss Céredas suchen.«
Andrejow verbeugte sich. »Ich stehe Euch gern zur Verfügung und sehe nach dem Verlorengegangenen. Lonathâ hat Recht, Ihr solltet zu Bett gehen. Eine derartige Begegnung ist« – er schien nach dem treffenden Wort zu suchen, seine Augen glitzerten –, »sagen wir, ermüdend.«
»Ermüdend?«, wiederholte Wurgluck und musterte den jungen Mann ungläubig. »Beschreibt Ihr so das Gefühl, das dieser wandelnde Alptraum in Euch hervorruft? Gehört Ihr nicht zu denen, die Angst und Entsetzen spüren können?«
Andrejow zog Lonathâ zu sich und legte seine Arme um sie. »Doch, Herr Erdgnom, ich fühle Furcht und Sorge um mein liebes Weib«, sagte er ernst.
Der letzte Gast stieg die Treppe hinunter, die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss. Leise und mit trüber Miene, wie nach einer Beerdigung, begann die Wirtin die Tische abzuräumen. Nun erst wandte sich der alte Mann um und sah Tahâma an. Sie spürte den Blick und schaute zu ihm hinüber. Da war es wieder, das Gefühl, das sie schon beim Anblick der riesigen Statue empfunden hatte. Ungläubig sah sie in das fremde und doch so vertraute Gesicht. Die letzten Augenblicke im Leben ihres Vaters huschten an ihr vorüber, noch einmal sah sie sein geliebtes Antlitz vor sich, das im Tod erstarrt war, und dann die aufzüngelnden Flammen, die seinen Körper verzehren sollten. Mühsam löste sie den Blick von dem alterslosen Gesicht und sah zu dem Kristall in seiner Hand, der nun wieder leicht flackerte.
»Ihr sagtet, es sei Krísodul? Aber das kann nicht sein!« Sie hob den Stab mit dem Stein ihres Vaters vom Boden auf. »Das ist Krísodul!«
Langsam kam der Weise näher. Sein Blick wanderte zu Lonathâ und Andrejow. »Geht jetzt in eure Kammer und legt euch nieder.«
Die beiden senkten die Köpfe. Lonathâ strich noch einmal über Tahâmas Hand. Dann gingen die beiden hinaus. Als die Tür sich geschlossen hatte, wandte der Weise sich wieder dem Mädchen zu, das mit dem Kristall in der Hand vor ihm stand.
»Du hast Recht, und ich habe Recht, denn beide Steine sind Krísodul, der blaue Kristall, der gespalten war und dann zu wachsen begann, sodass es ihn nun zweimal gibt.«
»Wer seid Ihr?«, murmelte Tahâma.
»Warum fragst du? Dein Herz hat es dir doch schon längst gesagt. Sind dir die Melodien, die du hier in Krizha gehört hast, nicht bekannt? Warst du nie in der großen Bibliothek, um ihnen zu lauschen? Hast du nicht den zweiten Teil des Steins von dem, der ihn aus meiner Hand empfing?«
»Rothâo«, antwortete sie tonlos.
»Ja, Rothâo da Senetas, mein Sohn. Warum starrst du mich so an? Ich kam vor mehr als einem Jahrhundert in dieses Land, das unter der Macht des Schattenlords leidet, und bin als der Weise von Krizha in Nazagur geblieben. Aber sage mir, wo ist mein Sohn? Es ist viele Jahre her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Die Blauschöpfe, die vor drei Monden durch die Stadt gezogen sind, erzählten, er sei nun der Vater der Melodien.« Er stieß ein kurzes Lachen aus, das Tahäma nicht zu deuten vermochte. »Sie hätten ihn mit einem wichtigen Auftrag zur Kindlichen Kaiserin geschickt.«
»Er ist tot!« stieß Tahâma hervor. Noch einmal an diesem Abend musste sie von den Mordolocs und den letzten Stunden im Leben ihres Vaters berichten.
»Ein Mordoloc hat den Vater der Melodie
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