Die Seele der Nacht
dazu? Endlich erreichte sie den Steinkreis, sprang über die Mauer und zügelte die Stute hart. Die Klinge, die Aylana ihr gegeben hatte, fiel auf den eisernen Ring hinab, der klirrend zerbarst. Ein zweiter Schnitt löste die Handfesseln.
Céredas sprang zu dem Steintisch, schob die Axt in den Gürtel und warf Bogen und Köcher auf den Rücken, dann griff er nach der Mähne seines Rappen und schwang sich auf dessen Rücken. Tahâmas Kopf fuhr herum. Sie sah Aylana von einer Traube düsterer Gestalten umringt. Glyowind stieg vorn hoch und stieß ein helles Wiehern aus, dann schoss sie in Richtung Norden davon, gejagt von der schaurigen Meute.
Nicht alle Wesen der Nacht folgten der silbernen Stute. Ein Rudel großer, schwarzer Wölfe hetzte über die Wiese auf Tahâma und Céredas zu.
»Hinunter zur Brücke!«, rief das Mädchen, und schon setzte ihre Stute über die Mauer. Der Rappe folgte. Sie mussten ihre Pferde nicht antreiben, das Heulen der Wölfe genügte, dass sie schnell wie der Wind den Abhang hinunterflogen. Dennoch waren die Verfolger nicht bereit, ihre Beute so einfach entwischen zu lassen. Sie jaulten und heulten, aber es kam Tahâma so vor, als streiften auch Worte ihr Ohr. Sie riefen nach jemandem. Wollten sie die Flüchtenden mit beschwörenden Klängen zurückhalten? Versuchten sie auf die Pferde einzuwirken, oder riefen sie nach Verstärkung aus den Wäldern? Wie um diese letztere Befürchtung zu bestätigen, ertönte nun von der anderen Seite des Bachs ein Jaulen. Schatten von Wölfen schoben sich zwischen den Bäumen hervor.
»Schneller! Sie wollen uns den Weg abschneiden«, schrie Tahâma.
Dort war die Brücke. Sie mussten den Bach überqueren, bevor die Wölfe auf der anderen Seite das Ufer erreichten! Tahâma raste den letzten Abhang hinunter, während der Hengst mit einem Mal zurückfiel. Er stieß seltsame, angsterfüllte Schreie aus, wie Tahâma sie noch nie von einem Pferd gehört hatte. Er bäumte sich auf, bockte und schlug aus. Céredas zerrte an den Zügeln. Die Wölfe mussten ihn jeden Moment erreichen! Die Hufe ihrer Stute trommelten über die Brückenbohlen. Tahâma erreichte das andere Ufer und warf ihr Pferd herum. Noch immer tänzelte der Rappe und schnaubte voller Angst.
Der Klang formte sich ohne ihr Zutun. Oft hatte sie voller Staunen erlebt, wie Thurugea selbst mit dem wildesten Wesen fertig werden konnte, wenn sie diese magischen Harmonien benutzte. Wäre ihr Zeit geblieben darüber nachzudenken, so hätte Tahâma bedauernd den Kopf geschüttelt. Große Zauberei konnten nur die großen Drei ausüben, und über die Harmonie gebot Thurugea und ihre Sippe, niemand sonst.
Der Rappe machte einen gewaltigen Satz nach vorn, sodass Céredas fast von seinem Rücken geschleudert wurde. Nur mit Mühe konnte sich der Jäger in der Mähne festkrallen. Das Pferd war wie entfesselt. Es schien magische Kräfte zu besitzen. Mit wenigen Sätzen ließ es das Wolfsrudel hinter sich, flog über die Brücke und schoss an Tahâma vorbei, obwohl sie ihre Stute nun wieder antrieb. Die Wölfe heulten und jaulten voller Zorn, doch weder die großen schwarzen Tiere, die ihnen gefolgt waren, noch die schlanken grauen, die auf ihren Ruf hin aus den Wäldern geeilt kamen, konnten die Flüchtenden aufhalten.
Erschöpft und außer Atem erklommen sie den Hügel, von dessen Spitze ihnen warmes Licht aus dem Fenster entgegenleuchtete. Tahâma und Céredas hatten gerade ihre Pferde mit Wasser und Heu versorgt, als Glyowind über die Wiese herangesprengt kam. Offensichtlich war es Aylana gelungen, die Verfolger abzuschütteln. Keine Schatten waren weit und breit zu sehen, und auch das Gefühl der Kälte blieb aus.
Mit einem Lächeln auf den Lippen trat Aylana kurz darauf in die Stube. Ihre Wangen waren vom Nachtwind gerötet. Sie trat auf Céredas zu, der sich gerade aus Wurglucks Umarmung zu befreien suchte, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie sprach kein Wort, aber die Erleichterung war von ihrem Gesicht abzulesen.
Dann trat Aylana an den Herd, wärmte eine Milchsuppe und Früchtebrot, stellte Rahm und süßes Beerenmus auf den Tisch, wo die drei Freunde aufgeregt über die geglückte Flucht sprachen. Wurgluck bekam gar nicht genug davon, jeder Einzelheit zu lauschen. Während er mit vollen Backen schmauste, trafen sich Céredas’ und Tahâmas Blicke immer wieder, aber kaum hatten sie sich gefunden, huschten sie auch schon wieder fort.
Verlegen griff Tahâma nach einem Stück Brot, tauchte
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